Nun standen mir im Prinzip zwei berufliche Wege offen, der Lehrerberuf und der Beruf des Fluglotsens, der (leider) – wie sich später herausstellte – eine Fehlentscheidung war.
Aber zunächst fing alles ganz harmlos an. Horst C., der bei der Flugbereitschaft in der Einsatzleitung tätig war, hatte nach seiner Entlassung aus der Bundeswehr ebenfalls die Fachschule besucht, an der Sonderprüfung teilgenommen und dann – konsequenter als ich – mit dem Studium an der PH begonnen. Ich war schon seit längerer Zeit mit ihm befreundet, und weil er Semesterferien hatte, beschlossen wir, zusammen Urlaub zu machen und an die Costa Brava zu fahren.
Inzwischen hatte ich in Erfahrung bringen können, dass ich meinen Dienst am 1. September an der Flugsicherungs-Schule in München-Riem antreten sollte. Für meine Unterkunft musste ich selber sorgen, denn ein Internat gab es nicht. München war kein großer Umweg, und da konnte ich mich an der Schule ja schon mal erkundigen, welche Möglichkeiten es gab. Ich bekam eine Adresse in Aschheim, ca. 5 km vom Flughafen entfernt. Das Zimmer gefiel mir, ich machte eine Anzahlung und hatte ein Problem weniger. Danach fuhren wir weiter nach Palamos, wo wir ein Hotel gebucht hatten.
Nach 4 Wochen Urlaub mit viel Vino, wenig Schlaf und mancherlei Unsinn waren wir am 16. August wieder in Köln.
Als ich am 1. September meinen Dienst antrat, war die Überraschung groß, denn unter den Lehrgangsteilnehmern befand sich auch Detlef, den ich bei der fliegerärztlichen Untersuchung in Bonn kennen gelernt hatte. Er wäre am liebsten Pilot auf Transportmaschinen bei der Bundeswehr geworden, was aber aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich war.
Da wir in etwa die gleichen Interessen hatten, waren wir von nun an ein gut funktionierendes Team. Die 20 Lehrgangsteilnehmer wurden in zwei Gruppen aufgeteilt, Detlef und ich kamen in dieselbe Gruppe.
Während des Lehrgangs wurden folgende Themen behandelt: Beamtenrecht, Grundlagen der Flugsicherung, Luftverkehrs-Ordnung, Wetterkunde, Navigation, Englisch mit Schwerpunkt auf Aviation-Phraseology und Aeronautics (Physikalische Gesetze des Fliegens, Flugzeugsteuerung, Flugzeugtypen, Antriebsarten, Fluginstrumente)
Bernhard F. war unser Klassenlehrer – einen besseren hätten wir uns nicht wünschen können. Mit Berny, wie wir ihn schon nach kurzer Zeit nennen durften, waren wir auch in der Freizeit häufig zusammen. Wir zogen gemeinsam durch die Kneipen und Weinlokale oder fuhren in München ins Dantebad, einem beheizten Freibad, in dem man auch bei Kälte und Schnee schwimmen konnte.
Aber nicht nur mit Berny hatten wir das große Los gezogen. Unsere Englischlehrerin war gebürtige Amerikanerin und kam aus Denver, Colorado. Vor ihrer Anstellung bei der BFS hatte sie bei Radio Liberty gearbeitet, einem Sender der Programme in die osteuropäischen Länder ausstrahlte.
Babs war der Schwarm der ganzen Gruppe und hatte anfangs Mühe, uns auf Distanz zu halten. „Boys, seht mich einfach als eure Lehrgangsmutter an, mehr nicht!“ Ganz so abwegig war das auch nicht, denn abgesehen von Detlef und mir hatten die „Boys“ gerade ihr Abitur gemacht. (Mit 28 Jahren war ich der Älteste der Truppe.)
Nachdem das geklärt war, gab es auch keine weiteren Probleme. Sie hatte mehr freie Zeit als Berny, und deshalb waren wir auch häufiger mit ihr unterwegs. Wir machten zusammen Ausflüge, gingen ins Dantebad, oder sie lud uns zum Tee in ihre Wohnung ein.
Babs, unsere Englisch-Lehrerin
Die zweite bemannte Mondlandung (Apollo 12) sollte in der Nacht zum 19. November erfolgen. Dieses spannende Ereignis wollten wir uns nach Möglichkeit nicht entgehen lassen. Da aber keiner von uns im Besitz eines Fernsehers war, lud Babs uns ein, die Übertragung bei ihr zu verfolgen.
Detlef und ich hatten unser „Outfit“ mitgebracht. Etwas verrückt waren wir mit unserem Western-Tick wohl, zumindest aus heutiger Sicht.
Warten auf die Mondlandung
Die Mondlandung erfolgte erst am nächsten Morgen gegen 8 Uhr, und so wurde es mal wieder eine lange Nacht. Die Westernklamotten trugen wir übrigens nur zu „besonderen Anlässen“. Ansonsten kleideten wir uns ganz normal.
Am Montag erzählte uns Babs, dass sie Ärger mit ihrem Vermieter bekommen hatte und Hausbesuche dieser Art ab jetzt untersagt seien. Schade! Anscheinend waren wir wohl doch etwas zu laut gewesen.
Sie war sehr an kulturellen Ereignissen interessiert und schaffte es sogar, uns zu einem Theaterbesuch zu überreden. Das Stück hieß „Die Nacht der Puppen“ (Fernando Arrabal). „Die Nacht in Schwabing“ war dann schon mehr nach unserem Geschmack. Um 5 Uhr morgens waren wir wieder zu Hause.
Für den 22. November hatte Babs einen Ausflug nach Oberammergau vorgeschlagen. Zwei meiner Mitschüler waren auch interessiert, und so fuhren wir mit meinem R4 nach Oberammergau. Am späten Nachmittag traten wir die Rückfahrt an. Nach etwa 5 km kamen wir in das kleine Örtchen Unterammergau. Ein Heuwagen, der an einer Kreuzung links abbiegen wollte, hatte angehalten, um den Gegenverkehr vorbei zu lassen, und deshalb musste auch ein Mercedes anhalten, der sich dahinter befand. Das hatte ich aber nicht mitbekommen, weil ich mich recht angeregt mit Babs unterhielt, die auf dem Beifahrersitz saß.
Trotz ihres Warnrufs und sofortiger Vollbremsung war der Crash nicht mehr zu vermeiden. Der Mercedes hatte einiges abbekommen, aber mein R4 natürlich auch. Scheinwerfer und Blinklicht waren hin, die Stoßstange verbogen, und ein Kotflügel war so weit eingedrückt, dass er das Vorderrad blockierte. Zunächst schien es jedenfalls so, als könnten wir die Fahrt nicht fortsetzen.
Zufälligerweise war der Unfall aber direkt vor einer Kfz-Werkstatt passiert, und dank Otto Geissingers Hilfe konnten wir den R4 wieder fahrbereit machen.
Otto half mir auch bei der Schadensregulierung. Er schlug den Text vor, und ich unterschrieb. Der Fahrer des Mercedes war damit einverstanden, und wir konnten unsere Fahrt fortsetzen. Allerdings konzentrierte ich mich jetzt mehr auf die Straße. Babs war etwas nachdenklich geworden. Es hätte ja auch schlimmer ausgehen können. Die Schulleitung wäre wohl nicht begeistert gewesen, wenn sie erfahren hätte, dass sie mit Schülern unterwegs war.
Fünf Monate später erhielt ich die Quittung für meine Unachtsamkeit in Form eines Zahlungsbefehls. Hinzu kamen noch die Kosten für die Reparatur an meinem Wagen und die Erhöhung der Versicherungsprämie. Insgesamt war es also ein teurer Ausflug geworden. Die Stimmung hat darunter aber nicht gelitten.
Der Englischunterricht mit Babs verlief recht locker, so dass sie uns immer wieder auf den Ernst der Lage hinweisen musste, denn schließlich hatten wir ja auch noch Klassenarbeiten zu schreiben.
Was den gesamten Lehrgang anging, so war mir aufgrund meiner Vorkenntnisse der meiste Stoff bekannt. Dadurch konnte ich auch einigen Mitschülern helfen. Detlef war beispielsweise absolut lernfaul. Wenn Tests anstanden, musste ich ihn regelrecht antreiben. Aber selbst das half nicht immer. Mehrmals konnte ich ihn nur retten, indem ich ihm die richtigen Antworten auf einem Zettel zuschob. Mogeln war natürlich untersagt, aber Berny drückte wohl ein Auge zu – jedenfalls schaute er im entscheidenden Moment in eine andere Richtung.
Seit Anfang November war ich Mitglied im Verband Deutscher Flugleiter.
Am 19. Dezember war der Lehrgang beendet. Inzwischen hatten wir auch unsere neue Dienststelle erfahren. Detlef und ich sollten am 22. Dezember mit unserer praktischen Ausbildung auf dem Köln-Bonn-Tower beginnen. Jetzt wusste ich zwar, wo meine Arbeitsstelle sein würde, hatte aber noch keine Wohnung. Nach meiner Ankunft in Wahn konnte ich mich zunächst für einige Tage in der „Quelle“ einquartieren – einem Restaurant direkt an der Hauptwache zum Fliegerhorst.
Am 22. Dezember fuhr ich morgens zum Tower, um mich zum Dienstantritt zu melden. Das Vorstellungsgespräch beim Leiter der Dienststelle dauerte nicht lange und endete damit, dass ich über die Feiertage erstmal in Urlaub geschickt wurde. Das war nicht schlecht, denn so konnte ich mich direkt auf Zimmersuche begeben und hatte auch schon am nächsten Tag Erfolg.
Da der Tower rund um die Uhr besetzt war, erfolgte der Dienst in zwei Schichten. Detlef wurde einer anderen Schicht zugeteilt, so dass wir uns nur während der Freizeit sahen.
Zu einer Schicht gehörten außer den Fluglotsen auch die Flight Data Assistants (Flugdatenbearbeiter), deren Hauptaufgabe darin bestand, die Flugdaten der Maschinen auf Kontrollstreifen zu übertragen und sie entsprechend ihrer Abflug- oder Landezeiten auf einem Board einzuordnen. Darüber hinaus bedienten sie die Telefone, übernahmen Koordinationsaufgaben mit anderen Flugsicherungsstellen und besprachen halbstündlich ein Tonband mit den aktuellen Wetterdaten.
Ich arbeitete bis zu meinem nächsten Lehrgang fast ausschließlich mit den Assistenten zusammen. Sie waren freundlich und hilfsbereit, ganz im Gegensatz zu den Fluglotsen, die – abgesehen von wenigen Ausnahmen – bei jeder Kleinigkeit aufbrausten. In Detlefs Schicht war es auch nicht anders: „Wir waren für sie weniger als eine Null.”
Bei den Assistenten gab es eine Auszubildende, die allein schon durch ihr Äußeres auffiel. Sie hatte schulterlange rotblonde Haare, und wenn über sie gesprochen wurde, hieß sie nur die „rote Rita“. Sie war sehr ehrgeizig, aber ihr Ehrgeiz galt nicht nur ihrer Ausbildung, sie hatte andere Pläne. Damals war sie 19 Jahre alt. Ihr Name: Rita Maiburg
„Die Flugausbildung von Rita Maiburg begann im August 1967 mit dem Beitritt in den „Segelflieger-Verein Vorgebirge e. V.“, wo sie die A-, B- und C-Prüfung ablegte. Im Frühjahr 1969 erwarb sie an der Luftfahrerschule Nordrhein-Westfalen in Bonn-Hangelar die Privatpilotenlizenz (PPL). Von Juni 1969 bis November 1970 absolvierte Rita Maiburg eine Ausbildung im mittleren nichttechnischen Betriebsdienst der „Bundesanstalt für Flugsicherung“ in Köln. Danach ließ sie sich von Januar 1971 bis Mai 1972 an der Fachschule für Verkehrsluftfahrt in Mülheim/Ruhr zum Berufspiloten ausbilden.
Zwischen August 1971 und Januar 1972 arbeitete Rita Maiburg bei einem privaten Unternehmen in München als Copilotin und Bürokraft. Diese Beschäftigung verlor sie, als die Firma ihr Flugzeug verkaufte. Daraufhin meldete sie sich beim Arbeitsamt in Brühl als arbeitslos und blieb zwei Jahre ohne Job.
In dieser schwierigen Lage strengte sie auf Anregung und mit finanzieller Unterstützung der Kölner Journalistin Barbara Schleich einen Prozess gegen die Bundesrepublik Deutschland und die Lufthansa an, mit dem sie eine Anstellung bei jenem Luftfahrtunternehmen erreichen wollte, das damals keine Frauen als Piloten ausbildete und fliegen ließ.
Bereits Ende 1976 stieg Rita Maiburg zum ersten und einzigen weiblichen Flugkapitän im regulären Liniendienst der westlichen Welt auf.
Beim Flug von Saarbrücken nach Frankfurt am Main hörten die Passagiere einer 20-sitzigen „DHC-6 Twin Otter“ verwundert die Durchsage der Stewardess: „Im Namen von Frau Flugkapitän Rita Maiburg heiße ich Sie …“ Schon am nächsten Morgen wurde die Stewardess zur Geschäftsleitung gebeten und nochmals auf den Ansagetext „Im Namen von Flugkapitän Maiburg heiße ich Sie …“ verpflichtet.
„Deutschlands fliegendes Geheimnis“, wie Rita Maiburg genannt wurde, war langhaarig, blond, grünäugig, 1,73 Meter groß und 62 Kilogramm schwer. Ab März 1977 flog sie ihre erste zweimotorige und 30-sitzige Turboprop-Maschine des Typs „Short 3/30“, für die sie als Kapitän in England ihr „Type-rating“ machte.
Rita Maiburg verlor auf tragische Weise früh ihr Leben: Auf der Fahrt mit ihrem Auto zum Flughafen Münster-Osnabrück stieß sie am 2. September 1977 im dichten Nebel frontal mit einem Milchtankwagen zusammen. Sie war bereits am frühen Morgen um 6.30 Uhr in Greven bei Münster gestartet, um ihre Turboprop-Maschine „Short 3-30“ nach Frankfurt am Main zu fliegen.
Nach ihrem Unfall lag die Schwerverletzte in der Intensiv-Station des Krankenhauses Greven. „Ich muss hier raus, die haben doch keinen Ersatz für mich“, waren ihre letzten verständlichen Worte.
Obwohl die Ärzte verzweifelt um ihr Leben kämpften, erlag Rita Maiburg am 9. September 1977 im Alter von nur 26 Jahren einer Lungenembolie.”
Zitiert aus „Königinnen der Lüfte“ von Ernst Probst