USA – Kanada
Die „M/S Innstein“ wurde 1951 gebaut und 1980 in Kaohsiung (Taiwan) abgewrackt.
Die Länge betrug 120 m, die Breite 15 m und die Geschwindigkeit 15 kn.
7. Juni
Nachmittags traf ich auf der „Innstein“ ein. Das Schiff war 9 Jahre alt. Ziel der Reise waren die Großen Seen im Norden der USA. Folgende Häfen sollten angelaufen werden: Montreal, Toronto, Hamilton, Cleveland, Detroit, Chicago und Milwaukee.
Ich wurde zur Sicherheitswache eingeteilt, die um 18 Uhr begann und am nächsten Morgen um 8 Uhr endete.
8. Juni
Der Pendelverkehr zwischen Hamburg, Bremen, Rotterdam und Antwerpen fand für mich diesmal nicht statt, da die „Innstein“ bereits voll beladen war. Mittags liefen wir aus Hamburg aus. Das Schiff wurde für die Reise über den Atlantik seeklar gemacht. Ich bekam die 0 – 4 Wache, also die, die ich am wenigsten mochte.
10. Juni
Die See war anfangs relativ ruhig, und so konnten an Deck die üblichen Arbeiten ausgeführt werden. Um eine größere Anzahl von Korbflaschen, die in den Luken keinen Platz mehr gefunden hatten, bauten wir an Deck einen Verschlag, Farbe wurde gewaschen, und besonders den Rost nahmen wir uns vor. Ich hatte das Vergnügen, größere Flächen an Deck mit dem Rostteufel zu bearbeiten, was mit viel Staub und Lärm verbunden war.
13. Juni
Auf dieser Reise teilte ich mir mit einem Jungmann die Kabine, der irgendwie nicht so recht in die Mannschaft passte. Sein Verhalten könnte man vielleicht mit vornehmer Distanziertheit umschreiben. Als wir uns über die Seefahrt unterhielten, sagte er mir, dass dies seine letzte Reise sei, und er eine Lehre als Bankkaufmann beginnen würde. Sein Vater hätte ihn dazu überredet, Seemann zu werden, aber aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen käme das für ihn auf keinen Fall in Frage. Kurioserweise war sein Vater Besitzer einer Bremer Reederei und hätte eigentlich wissen müssen, was da auf seinen Sohn zukam.
14. Juni
Das Gespräch mit dem Jungmann hatte mich wieder völlig verunsichert. Trotz meiner negativen Erfahrungen stand für mich eigentlich fest, dass ich bei der Seefahrt bleiben wollte. Aber nun begann ich wieder zu zweifeln. Würde ich mich auf Dauer in diesem Beruf wohlfühlen? Würde ich mich daran gewöhnen, täglich mit Leuten zusammen zu sein, deren Interessen völlig verschieden von meinen waren? Und dann gab es da auch noch einen Satz, den ich mir 1959 in mein Tagebuch geschrieben hatte: „Seeleute sind Zaungäste des Lebens.“ (Gorch Fock?).
Schon während dieser relativ kurzen Zeit bei der Seefahrt hatte ich feststellen müssen, wie sehr ich mich dem Landleben entfremdet hatte. Würde mir das auf Dauer zusagen? Also weitermachen oder aufgeben, diese Frage ging mir die ganze Zeit durch den Kopf. Mir war klar, dass ich mich so langsam entscheiden musste, denn je länger ich blieb, desto schwieriger würde es werden, einen anderen Beruf zu erlernen.
Aber wenn ich jetzt aufhörte, wie sollte es dann weitergehen? Bestand überhaupt noch die Möglichkeit, bei meiner Mutter zu wohnen, denn ich wollte ihr auf keinen Fall wieder finanziell zur Last fallen. Für welchen anderen Beruf interessierte ich mich überhaupt? Hinzu kam auch noch, dass ich bei meinen Freunden und Bekannten nicht als Versager dastehen wollte. Dass ich bis jetzt durchgehalten und die schlimmste Zeit der Ausbildung überstanden hatte, konnte ich ihnen zwar erklären, aber ob sie mir das abgenommen hätten? Solche und ähnliche Gedanken gingen mir in der nächsten Zeit fast täglich durch den Kopf.
15. Juni
Während der Atlantik-Überquerung war es zeitweilig recht stürmisch, aber je mehr wir uns dem Festland näherten, desto ruhiger wurde es. Dafür wurde es von Tag zu Tag kälter. Morgens fuhren wir bei strahlendem Sonnenschein und blauem Himmel mitten durch ein Packeisfeld mit mehreren kleineren Eisbergen.
In der Ferne konnte man schon die Küste von Neufundland erkennen.
16. Juni
Wir befanden uns jetzt im Sankt-Lorenz-Strom, der in Höhe von Neubraunschweig immerhin noch eine Breite von ca. 60 Kilometern hat, sich bis Quebec aber auf einen halben Kilometer verengt. Da es Richtung Süden ging, wurde es auch langsam wieder wärmer. Bis nach Montreal war es ja nicht mehr weit, und deshalb begannen wir damit, die Ladebäume und den Schwergutbaum aufzutakeln.
18. Juni
Gegen Mittag fuhren wir an Quebec vorbei.
Abends erreichten wir Montreal, unseren ersten Hafen in Kanada.
19. Juni
Heute war zwar Sonntag, aber die Arbeit ging jetzt erst richtig los. Wir liefen um 6 Uhr aus, und schon kurz hinter Montreal ging es in die erste von sieben Schleusen.
Erst sah man die Besucher von unten,
dann von oben.
Wenn innerhalb von nur 10 Minuten etwa 91 Millionen Liter Wasser in die Schleusenkammer gedrückt werden, entstehen enorme Strudel und Wirbel.
Damit das Schiff nicht von der Schleusenwand wegtreibt, müssen die Stahltrossen entsprechend gefiert oder dichtgeholt werden. Dafür sorgen die Männer an den Winschen (Winden). Über das Handrad werden Drehrichtung und Geschwindigkeit der Trommel geregelt.
Wenn der Draht anfängt zu knistern, dauert es nicht mehr lange, bis er bricht. Spätestens jetzt sollte gefiert werden.
Der Sankt-Lorenz-Seeweg verbindet den Atlantik mit den Großen Seen. Dabei muss ein Höhenunterschied von ca. 170 Metern überwunden werden. Dies erfolgt in zwei Etappen. Auf der Strecke von Montreal bis zum Ontario-See (etwa 300 km) befinden sich zunächst sieben Schleusen, in denen das Schiff um ca. 70 m angehoben wird.
20. Juni
Die ersten Übermüdungserscheinungen stellten sich ein. Als ich um 4 Uhr nach meiner Wache nicht abgelöst wurde, sondern erst eine halbe Stunde später, reagierte ich ziemlich sauer. Gegen 16 Uhr näherten wir uns Toronto. Ich stand am Ruder und sah von dort aus zum ersten Mal in meinem Leben richtige Wolkenkratzer, was mich sehr beeindruckte. An Land konnte ich nicht, weil ich bis 23 Uhr Lukenwache gehen musste.
21. Juni
Schon um 3 Uhr ging es weiter. Wir verließen Toronto und fuhren nach Hamilton, wo wir um 6 Uhr festmachten. Um 23 Uhr konnte ich in die Koje.
22. Juni
Morgens wurde gemalt, nachmittags machten wir seeklar, gegen 17 Uhr verließen wir den Hafen von Hamilton. Der zweite Schleusen-Abschnitt liegt zwischen Ontario-See und Erie-See (etwa 40 km) und heißt Welland-Kanal. 10 km östlich des Kanals liegen die Niagarafälle. Im Welland-Kanal befinden sich acht Schleusen, die das Schiff um weitere 100 m anheben. Nach etwa 50 km Fahrt in östlicher Richtung hatten wir um 19 Uhr die Einfahrt zum Welland-Kanal erreicht. Kurze Zeit später fuhren wir in die erste Schleuse. Die Fahrt durch den Kanal ging zügig voran, nur einmal mussten wir für kurze Zeit vor einer Schleuse festmachen und warten.
An einer Stelle des Kanals folgen gleich drei Schleusen hintereinander. Dabei wird auf einer Länge von 1250 m ein Höhenunterschied von 42,6 m überwunden. Die Amerikaner nennen diese drei Schleusen „flight locks“.
„They are called the flight locks because they look like steps in a flight of stairs and were designed to lift the ships up the Niagara escarpment more efficiently. As a result, the overall slope of the flight locks is very steep.”
Eigentlich war es ja ziemlich warm, aber wenn wir in die Schleusenkammern einfuhren, wurde es kühl und feucht, und es roch moderig. Für Gruftis absolut empfehlenswert.
Am nächsten Morgen gegen 10 Uhr hatten wir die letzte Schleuse verlassen und befanden uns im Erie-See.
23. Juni
Um 21 Uhr liefen wir in Cleveland ein. Es war das erste Mal, dass für mich die Gelegenheit bestand, an Land zu gehen. Einerseits war ich zwar hundemüde und hätte dringend Schlaf benötigt, aber andererseits konnte ich es kaum erwarten, eine amerikanische Stadt kennenzulernen.
Dieser Ausweis berechtigte mich, amerikanischen Boden zu betreten.
Irgendwie war ich dann aber doch etwas enttäuscht. Die Auslagen in den meisten Geschäften machten auf mich einen billigen bis kitschigen Eindruck. Das Einzige, was mich beeindruckte, waren die riesigen Straßenkreuzer. Zum Abschluss ging ich noch in ein chinesisches Restaurant. Das Essen war sehr gut, aber als ich die Rechnung bekam, war ich etwas schockiert.
24. Juni
Um 6 Uhr war Wecken. Morgens wurden sämtliche Holzdecks mit einer scharfen Lauge gescheuert. Nachmittags ging ich Lukenwache. Von 18 Uhr bis 21 Uhr machten wir seeklar und liefen um 23 Uhr aus.
25. Juni
Nach der 0-4 Seewache 2 Stunden geschlafen, dann bereiteten wir die Luken für die Löscharbeiten vor und legten um 7 Uhr in Toledo an. Bis Mittag ging ich Lukenwache und ärgerte mich mit den Schauerleuten (Hafenarbeitern) herum. Nach dem Mittagessen malten wir zuerst die Brücke mit Deckweiß, danach machten wir seeklar und liefen um 16 Uhr aus. Von Toledo bis Detroit war es nur ein Katzensprung, und gegen 20 Uhr konnten wir dort schon wieder festmachen. Um 21 Uhr ging ich in die Koje. Innerhalb der letzten 42 Stunden hatte ich knapp 2 Stunden geschlafen.
26. Juni
Obwohl Sonntag war, musste ich bis spät nachmittags arbeiten. Seit dem 17. Juni hatte ich jeden Tag mindestens 6, an einem Tag sogar 13 Überstunden gemacht. Ich fühlte mich müde, überarbeitet und ausgelaugt. Was meine Überlegungen bezüglich der Seefahrt anging, so hatte ich mich inzwischen entschieden. Nach dieser Reise würde ich endgültig aufhören. Von meinen anfänglich wohl doch etwas zu romantischen Vorstellungen war nicht mehr viel übrig geblieben. Die Realität hatte damit wenig zu tun, und die Realität, wie ich sie wahrnahm, sah so aus:
Man wird von den Offizieren wie ein Sklave behandelt. Man wird nicht gefragt, ob man Überstunden machen will, man muss, alltags wie sonntags, bei Tag und bei Nacht, ob man müde ist oder nicht. Wenn ich an Land bleibe, kommt niemand nach zwei Stunden Schlaf und schreit: „Raus, raus, wir sind da!“ Das Wochenende und die Feiertage gehören mir.
Was bringt es mir, wenn ich in Amerika war und die meisten Städte nur aus der Ferne gesehen habe, weil ich keine Zeit hatte, um an Land zu gehen?
Ein Privatleben findet nicht statt, zum Lesen komme ich kaum noch.
Die Arbeit ist stupide, stundenlang schlage ich mit einem Hammer Roststellen weg, wasche Farbe, pinsele, beseitige Dreck und Abfall, und das wiederholt sich Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Da muss man doch verdummen.
Ich bin mit Typen zusammen, um die ich an Land einen großen Bogen machen würde. Aber hier muss ich auf sie eingehen, damit sie bei Laune bleiben, denn ich bin ja auf sie angewiesen. Ich müsste so werden wie sie, um mit ihnen auszukommen, aber ich will nicht so werden. An Land muss ich nicht rund um die Uhr mit Leuten zusammen sein, die mir nicht zusagen.
Vielleicht habe ich bei der Auswahl der Schiffe Pech gehabt, vielleicht gibt es ja welche, auf denen die Bedingungen besser sind, aber ich habe keine Lust mehr, das herauszufinden.
In einem Brief an meine Mutter teilte ich ihr meinen Entschluss mit und fragte sie, ob ich wieder bei ihr wohnen könne. Davon hing zunächst natürlich alles ab. Ich wollte dann versuchen, eine Lehrstelle als Rundfunkmechaniker zu finden und später vielleicht in den Bereich Radartechnik wechseln.
27. Juni
Ab 5 Uhr machten wir löschklar. Nach dem Frühstück malte ich von der Pier aus die Backbordseite der Bordwand mit schwarzer Farbe. Damit war ich um 18 Uhr fertig (die Bordwand natürlich noch nicht). Gegen 24 Uhr liefen wir aus.
28. Juni
Die Ladung war zum größten Teil gelöscht, und wir machten vormittags die Luken sauber. Nachmittags begannen wir damit, in Luke 3 ein Schott zu bauen. Damit wir unter Deck mehr Licht hatten, war die Luke aufgedeckt. Während wir die Stützen und Planken einsetzten, zog eine Gewitterfront auf und näherte sich so schnell, dass uns keine Zeit mehr blieb, die Lukendeckel und eine Persenning aufzulegen. Die Luke musste auf jeden Fall zugedeckt werden, denn was da vom Himmel kam, war mehr als ein kurzer Schauer.
Wenn es regnete, wurde normalerweise ein Regensegel über die Luke gespannt, weil das wesentlich schneller ging als das Auflegen der Lukendeckel. Es handelte sich dabei um eine große Plane mit einer Schlaufe in der Mitte und mehreren Tampen am Rande. In die Schlaufe wurde ein Drahtseil eingeschäkelt und die Plane mit einer Winde über der Mitte der Luke nach oben gezogen. Die Tampen befestigte man am Lukenrand, und durch das so entstandene Zeltdach war das Lukeninnere vor eindringendem Regenwasser geschützt.
Eigentlich wurden die Regensegel nur im Hafen benutzt, aber wir waren mitten auf dem Huron-See. Vielleicht hätten wir ja doch die Lukendeckel auflegen sollen. Wie dem auch sei, irgendjemand gab die Anordnung, das Regensegel aufzuziehen. Viel Zeit zum Überlegen war ja eh nicht. Ich wurde zum Bedienen der Winde eingeteilt.
Vier Leute zogen das Regensegel auseinander und hielten die Tampen an den Ecken fest. Ich ließ die Winde langsam anfahren und zog das Teil ein Stück in die Höhe. Es goss in Strömen und stürmte, und so kam, was kommen musste. Eine Bö erfasste die Plane, riss sie gegen die Reling und dann außenbords. Die Kameraden hatten natürlich versucht, sie festzuhalten, aber das war völlig unmöglich. Am schlimmsten war derjenige dran, der zwischen Luke und Reling stand. Er wurde von der Plane erfasst und gegen die Reling geschleudert. Dabei hatte er noch Glück, dass er nicht über Bord gedrückt wurde. Ich habe mir noch lange Vorwürfe gemacht, denn schließlich hatte ich ja die Plane in die Höhe gezogen, aber was hätte ich sonst tun sollen?
Das Teil wirbelte außenbords auf der Steuerbordseite wie wild durch die Luft. Es dauerte keine Minute, und die ersten Fetzen flogen davon. Den Rest fingen wir wieder ein, aber der konnte nur noch entsorgt werden. Da es nach wie vor schüttete, blieb uns nichts anderes übrig, als die Luke nun doch noch mit Lukendeckeln und Persenning zu verschließen. Das eingedrungene Wasser konnte abgepumpt werden. Danach arbeiteten wir bei Scheinwerferlicht weiter. Gegen 23 Uhr war das Schott fertig.
29. Juni
Von 0 Uhr bis 4 Uhr ging ich Seewache, anschließend konnte ich zwei Stunden schlafen. Heute mussten wir in Luke 3 ein weiteres Schott bauen, deshalb ging es nach dem Frühstück wieder an die Arbeit. Um 13 Uhr ankerten wir vor Milwaukee und fuhren um 14:30 Uhr weiter nach Chicago. Während meiner Wache stand ich vier Stunden am Ruder. Um 20 Uhr waren wir vor Chicago und liefen in einen Kanal ein, der zu unserem Hafen führte. Die Gegend sah aus wie im tiefsten Ruhrgebiet. Erst gegen 24 Uhr hatten wir unseren Liegeplatz an einem Getreidesilo erreicht.
30. Juni
Nachdem wir festgemacht hatten, gingen wir in Luke 4 und fingen mit dem nächsten Schott an. Ich hätte auf der Stelle einschlafen können. Um 8 Uhr war Frühstückspause. Danach legte ich mich in die Koje und schlief wie ein Toter, bis ich um 17 Uhr geweckt wurde. Davon, dass die Kollegen nach dem Frühstück wieder in die Luke gegangen waren, hatte ich nichts mitbekommen, aber zum Glück hatte mich keiner vermisst. Abends verholten wir von der Getreide-Pier an die Stückgut-Pier und säuberten bis 24 Uhr das Deck vom Getreidestaub.
1. Juli
Ab 6 Uhr malte ich wieder außenbords, aber kaum hatte ich angefangen, musste ich zum Fegen an Deck. Bevor ich damit fertig war, wurde ich in eine Luke geschickt, um den Müll zusammenzuschaufeln, damit er nach oben gehievt werden konnte. Danach konnte ich außenbords weitermachen, bis ich wieder an Deck geholt wurde. So ging es den ganzen Tag.
2. Juli
Die Bordwände der Luken waren von einer dicken Staubschicht bedeckt, die wir heute abfegen mussten. Eigentlich hätte man eine Atemschutzmaske tragen müssen, aber das war wohl ein Fremdwort. Schon nach kurzer Zeit konnte man durch den aufgewirbelten Staub kaum noch etwas sehen, geschweige denn atmen. Zum Schluss wurde alles zusammengekehrt und nach oben gehievt.
Anscheinend hatten wir eine Einladung zum Besuch der Seemannsmission bekommen. Ob ich freiwillig hingegangen bin oder gehen musste, weiß ich nicht mehr, jedenfalls war ich da.
3. Juli
Sonntag. Heute war Kirchgang angesagt. Nach dem Gottesdienst wurden wir auf mehrere Familien verteilt. Der Jungmann (aus meiner Kabine) und ich waren zu Gast bei sehr netten Leuten, die wirklich alles taten, um uns den Tag so angenehm wie möglich zu gestalten, und das gelang ihnen auch. Nach dem Essen fuhren wir „Downtown“ und besuchten zuerst das „Museum of Science & Industry“.
Die Skyline von Chicago
Museum of Science & Industry
Von links nach rechts: der Jungmann, unser Gastgeber mit seiner Frau und davor der Sohn der Familie (mit einem wahnsinnig dringenden Bedürfnis)
Das deutsche U-Boot wurde 1944 von den Amerikanern erbeutet.
Downtown Chicago
Das „Prudential Building“ war das höchste Gebäude in Chicago (183 m). Mit dem damals schnellsten Fahrstuhl der Welt (Geschwindigkeit 427 Meter pro Minute) rasten wir nach oben und hatten nach weniger als einer halben Minute das Restaurant auf der Aussichtsplattform erreicht.
Chicago von oben
4. Juli
Für uns war es ein relativ normaler Arbeitstag (nur 10 Stunden), aber die Amerikaner hatten einen Feiertag. Ich wurde zum Abendessen eingeladen – heute bei einer anderen Familie – und machte zum ersten Mal Bekanntschaft mit der typisch amerikanischen Erfindung „Hot Dogs“. Den Feiertag nannten sie übrigens „Independence Day“, aber darunter konnte ich mir damals nichts vorstellen.
5. Juli
In den Luken gearbeitet, Rost entfernt, gepinselt, Deck aufgeklart (aufgeräumt), Fässer gelascht, um 20 Uhr in die Koje (Arbeitszeit 12 ½ Stunden)
6. Juli
Nach dem Wecken um 0:30 Uhr machten wir die Leinen los. Während der Fahrt durch den Kanal hatte ich mich auf eine Luke gelegt und war eingeschlafen. Um 4:30 Uhr wachte ich kurz auf, stellte fest, dass wir uns wieder im Michigan-See befanden und schlief weiter, bis wir um 10 Uhr in Milwaukee ankamen. Ich hatte eigentlich mit Post gerechnet, aber ich bekam keine.
Manchmal musste eine Bordwand an Stellen gestrichen werden, die schwer zugänglich waren, beispielsweise dann, wenn wir an der Pier lagen. Für den Bereich von der Wasserlinie bis zum oberen Rand der Pier schien das auf den ersten Blick unmöglich zu sein. Aber ich hatte diese Arbeit schon des Öfteren ausgeführt, und weil ich bis zum Abend damit beschäftigt war, möchte ich sie etwas genauer beschreiben.
Um eine Beschädigung der Bordwand zu verhindern, muss ja irgendwie vermieden werden, dass sie mit der Stein- oder Betonwand der Pier in Berührung kommt. Dazu werden in bestimmten Abständen Fender (Kunststoffbälle, Autoreifen) ausgehängt. Außerdem befinden sich an vielen Kaimauern dicke Holzbalken, die senkrecht und waagerecht angeordnet sind und eine Art Gitter bilden. Somit entstehen Hohlräume, und darin lässt sich arbeiten. Die Frage ist nur, wie kommt man in den Hohlraum, bzw. wie kommt man von einem Hohlraum in den nächsten?
Zuerst suchte ich mir an der Kaimauer eine Stelle, an der der Abstand zwischen Bordwand und Balken noch ausreichend war und kletterte hinunter. Der Hohlraum, in dem ich mich nun befand, glich einer Art flachem Kasten, dessen Seiten aus vier Balken, der Kaimauer und der Schiffswand gebildet wurden. Unten war der Balken, auf dem ich stand. Links, rechts und oben waren ebenfalls Balken. Die Rückwand bildete die Kaimauer, und vor mir lag die Schiffswand.
Solange der Abstand zwischen Balken und Schiffswand ausreichte, um in den nächsten „Kasten“ zu gelangen, gab es auch keine Probleme. Die Schwierigkeiten fingen erst an, als ich mich dem Mittschiffsbereich näherte und mich nur noch mit Mühe zwischen den senkrechten Balken und der Bordwand hindurchzwängen konnte. Irgendwann ging auch das nicht mehr. Wie konnte ich nun in den nächsten Kasten gelangen, um weiterzuarbeiten? Da die Schiffswand jetzt direkt an den Balken anlag, gab es keine Chance mehr, da noch durchzukommen. – Oder doch?
Ein Schiff, das an einer Pier liegt, ist häufig in Bewegung, die durch Wind und Wellen verursacht wird, weil die Leinen oder Trossen etwas durchhängen. Diese Bewegungen waren langsam und gleichmäßig, und wenn ich sie aufmerksam beobachtete, konnte ich abschätzen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen war, um die Stellung zu wechseln. Dass ich in diesen Hohlräumen nicht plattgedrückt wurde lag übrigens daran, dass die Balken dicker waren als ich und durch die Fender der Abstand ja noch etwas vergrößert wurde. Aber korpulente Kameraden waren für diese Arbeit nur bedingt geeignet.
Es mag vielleicht etwas unglaubwürdig klingen, aber ich konnte das Schiff sogar ein Stück von der Pier wegdrücken. Dazu lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Kaimauer und stemmte die Beine gegen die Bordwand. Das war sozusagen das letzte Mittel, wenn sich das Schiff mal nicht bewegte.
Abends konnte ich noch an Land. Ich brauchte ein Paar neue Schuhe und hätte mir auch gerne einen amerikanischen Parka gekauft. Die Schuhe hatte ich schnell gefunden, und der Preis von 3,99 $ war auch akzeptabel. Für einen Parka reichte aber das Geld nicht mehr.
7. Juli
Nach dem Frühstück kroch ich wieder zwischen Schiffswand und Pier und strich da weiter, wo ich am Vortag aufgehört hatte. Gegen 16 Uhr fuhren wir von Milwaukee los, klarten anschließend das Deck auf und spritzten es ab. Um 21:30 Uhr war Feierabend. (Arbeitszeit 12 ½ Stunden)
8. Juli
Von 0 Uhr bis 4 Uhr Seewache. Ab 8 Uhr musste ich in Luke 5 arbeiten, in der es furchtbar stank. Gegen 10 Uhr fuhren wir unter einer riesigen Brücke hindurch.
Es handelte sich hierbei um die „Mackinac Bridge”, die sich zwischen dem Michigan-See im Westen und dem Huron-See im Osten befindet. Sie hat eine Gesamtlänge von 8.038 m. In der Mitte beträgt die Durchfahrtshöhe 47 m. Leider konnte ich sie nicht in ihrer gesamten Länge fotografieren, und da habe ich sie noch einmal im Internet besucht.
9. Juli
Seewache bis 4 Uhr. Danach half ich an Deck, denn um 5 Uhr liefen wir in Detroit ein. Die Vorbereitungen für die Übernahme der Ladung dauerten bis 7:30 Uhr. Von 8 Uhr bis 12 Uhr strichen wir die Vorkante der Brücke mit Grundierfarbe. Um 15:30 Uhr verließen wir Detroit und fuhren über den ca. 50 km langen „Detroit River“ in Richtung Erie-See. (Arbeitszeit 15 Stunden)
10. Juli
Seewache bis 4 Uhr. Gegen 7 Uhr erreichten wir den Welland-Kanal, und kurze Zeit später begann das Schleusen. Da Sonntag war, und die Sonne schien, hatten sich viele Besucher eingefunden, die uns bei der Arbeit zuschauten. Um 17:30 Uhr hatten wir die letzte der acht Schleusen passiert, und befanden uns wieder im Ontario-See. (Arbeitszeit 13 ½ Stunden)
Ausguck während der Fahrt durch den Kanal
11. Juli
Seewache bis 4 Uhr. Nach der Überquerung des Ontario-Sees erreichten wir die erste Schleuse im Sankt-Lorenz-Strom gegen 6 Uhr. Da zwischen den sieben Schleusen größere Abstände liegen, war die Arbeit nicht ganz so anstrengend wie im Welland-Kanal. Um 20 Uhr ankerten wir vor Montreal, zwei Stunden später konnten wir an die Pier. (Arbeitszeit 19 Stunden)
12. Juli
In einer Luke hatte sich jede Menge stinkender Abfall angesammelt, der morgens als Erstes entsorgt werden musste. Wir hievten den Dreck an Land. Danach wurden die Vorkante der Brücke und die Brückennocken lackiert. Das dauerte bis 17:30 Uhr. In Montreal ging ich abends noch mal kurz an Land und versuchte, einen Parka zu einem erschwinglichen Preis zu finden. Aber der billigste kostete 30 Dollar. Leider war das immer noch zu viel. (Arbeitszeit 10 ½ Stunden)
13. Juli
Der Schwergutbaum wurde jetzt nicht mehr gebraucht und konnte abgetakelt werden. Gegen Abend verließen wir Montreal. (Arbeitszeit 12 Stunden)
14. Juli
Während der 0 – 4 Wache war ich eingeschlafen (Ausguck, nicht am Ruder), aber es hatte keiner bemerkt. Trotzdem war es mir peinlich. Um 5:30 Uhr legten wir in Quebec an. Nach dem Festmachen arbeitete ich noch bis zum Mittagessen an Deck. Ab 16 Uhr wurde seeklar gemacht, und ab 19 Uhr befanden wir uns auf der Heimreise. (Arbeitszeit 14 Stunden)
15. Juli
Weil das Wetter recht gut war, konnte viel an Deck gearbeitet werden. Wir klopften Rost, wuschen Farbe, scheuerten die Holzdecks und malten. Als wir uns Hamburg näherten, wurden die Ladebäume aufgerichtet und die Festmachertrossen an Deck geholt. Die tägliche Arbeitszeit lag zwischen 10 ½ und 14 ½ Stunden.
24. Juli
Sonntag. Um Mitternacht liefen wir in Hamburg ein. Gegen 3 Uhr waren wir mit dem Festmachen fertig, und ich konnte in die Koje.
25. Juli
Von 6 Uhr bis zum Mittagessen arbeitete ich an Deck, danach hatte ich frei und fuhr nachmittags mit dem Zug nach Detmold. Während der Reise hatte ich an mehreren Sonntagen gearbeitet. Dafür gab es einen Ausgleich in Form von freien Tagen, die ich jetzt nehmen konnte. Am 3. August sollte ich in Hamburg wieder an Bord sein.
Da immer noch nicht feststand, ob ich zu Hause wohnen konnte, und wie es beruflich weitergehen sollte, war es dringend notwendig, dass ich mir so schnell wie möglich Klarheit verschaffte. Es hatte eigentlich nur Sinn, bei meiner Mutter zu wohnen, wenn es mir gelang, die Zusage für eine Lehrstelle als Rundfunkmechaniker zu bekommen. Aber es stellte sich schon bald heraus, dass ich nicht die geringste Chance hatte. Somit konnte ich meine Pläne vergessen. Also weiterhin zur See fahren – zunächst sah es jedenfalls danach aus.
Natürlich sprach ich auch in meinem Bekanntenkreis über meine Probleme. Eines Tages machte mir jemand den Vorschlag, ich solle mich doch bei der Bundeswehr bewerben, und er zeigte mir eine Anzeige aus der Tageszeitung, in der die Bundeswehr um Nachwuchs bei der Luftwaffe warb. Das hörte sich sehr verlockend an.
Sicherheitshalber fragte ich noch mal telefonisch nach, ob ich denn damit rechnen könne, auch angenommen zu werden. Ich solle mich bewerben, die Aussichten seien gut. Anfang September könne ich mit einer Einladung zu einem Einstellungstest rechnen, lautete die Antwort.
Nachdem ich meine Bewerbung abgeschickt hatte, rief ich bei der Reederei an, um zu kündigen. Die Kündigung wäre zwar möglich, aber nur, wenn sie bis zum Auslaufen der „Innstein“ einen Ersatzmann gefunden hätten, hieß es. Ich solle auf jeden Fall am Mittwoch wieder an Bord erscheinen.
3. August
Mittwoch. Abends war ich in Hamburg, aber die „Innstein“ lag noch in Bremen. Ich konnte bei Oma Groth übernachten.
4. August
Donnerstag. Bei der Reederei teilte man mir mit, das Auslaufen der „Innstein“ würde sich verzögern, ich solle am Freitag in Bremen zusteigen. Ich übernachtete wieder bei Oma Groth.
5. August
Freitag. Mittags war ich an Bord der „Innstein“. Ich fragte den Ersten, wie es denn mit meiner Abmusterung aussähe. Gut, meinte er, einen Ersatzmann hätten sie schon, er würde in Hamburg zusteigen. Ab 14 Uhr ging es wieder an die Arbeit. Gegen 22 Uhr machten wir seeklar. Um 24 Uhr liefen wir aus.
6. August
Samstag. Von 0 Uhr bis 4 Uhr hatte ich wieder meine ungeliebte Seewache. Ab 8 Uhr arbeitete ich an Deck. Gegen Mittag machten wir in Hamburg fest. Von meinem Ersatzmann war weit und breit nichts zu sehen.
Die Stunden vergingen, es wurde Abend. Meine Ablösung war immer noch nicht da. Langsam aber sicher gab ich die Hoffnung auf. Bis zur Abreise der „Innstein“ waren es ja nur noch ein paar Stunden. Gearbeitet wurde nicht mehr, in meine Kabine gehen wollte ich auch nicht, also setzte ich mich auf eine Luke und döste vor mich hin.
Gegen 23 Uhr schreckte ich auf. Klang das nicht wie Schritte auf der Pier? Und richtig, da kam jemand im Laufschritt angerannt – mit einem Seesack auf der Schulter – direkt auf unsere Gangway zu. Das musste mein Ersatzmann sein! – Und er war es. Er wollte mir noch erklären, warum er sich so verspätet hatte, aber das hörte ich schon nicht mehr. Ich lief zum wachhabenden Offizier und sagte ihm, meine Ablösung sei da. Er füllte mein Seefahrtbuch aus, und damit war ich abgemustert.
Ich ging in meine Kabine und stopfte meine Sachen in den Seesack, dann legte ich mich auf die Bank und dachte darüber nach, wie es nun weitergehen sollte. Nach Detmold wollte ich noch nicht, und so war es wohl am besten, wenn ich am nächsten Morgen zunächst mal wieder Oma Groth aufsuchen würde.
7. August
Sonntag. Auf der Bank war es ziemlich unbequem, und so wachte ich schon gegen 4 Uhr wieder auf. Die „Innstein“ sollte um 6 Uhr auslaufen. Da war es eigentlich auch schon Zeit, das Schiff zu verlassen. Ich schulterte meinen Seesack und machte mich auf den Weg zur Fähre. Ein letzter Blick zurück – das war es also.
Die Fähren, die mir entgegen kamen, waren voll besetzt mit Hafenarbeitern. Die Fähre, in der ich saß, war so gut wie leer. Ich war wohl der Einzige, der um diese Zeit den Hafen verließ.
Als ich bei Oma Groth ankam, ging gerade die Sonne auf, aber es war noch viel zu früh zum Klingeln. So legte ich mich auf die Treppe im Garten, packte mir den Seesack unter den Kopf und döste noch ein Weilchen, bis ich im Haus Geräusche hörte.
Der letzte Eintrag in meinem Seefahrtbuch
Damit war meine Seefahrtzeit nach 777 Tagen beendet.
Nachtrag
Meine Heuerabrechnung erhielt ich per Post, da ich die Reederei nicht mehr aufgesucht hatte. Während der zwei Monate auf der „Innstein“ wurden mir lt. Abrechnung 233 ½ Überstunden bescheinigt. Ein Dienstzeugnis bekam ich nicht, es interessierte mich auch nicht mehr.
Eigentlich war ja Willi derjenige, für den feststand, dass er mit der Seefahrt aufhören wollte, während ich noch zweifelte. Deshalb war er auch sehr überrascht, als ich ihm meinen Entschluss mitteilte. Er hatte Bekannte in den USA, die ihm dort einen neuen Start ermöglichten. Später ließ er sich als Lehrer auf Hawaii nieder. 1968 schrieb er mir : „Es zieht mich immer noch zur See und zum Meer, aber nicht mehr zur Seefahrt. Das war einmal!“ Und genauso dachte ich damals und denke ich auch heute noch.
Willi 1962 in Santa Monica
Und wie ging es nun bei mir weiter? – Familie Groth machte mir den Vorschlag, bis zu meiner (eventuellen) Einstellung bei der Bundeswehr doch bei ihnen zu wohnen. Darüber habe ich mich natürlich sehr gefreut, denn bis dahin konnten ja noch einige Monate vergehen. Kurts Schwester arbeitete bei Karstadt und verschaffte mir dort eine Aushilfstätigkeit, so dass ich mich an den Unkosten im Haushalt beteiligen konnte. Anfang August erhielt ich von der Bundeswehr eine Einladung nach Hannover zu einem zweitägigen Prüfungsverfahren. Ende Oktober erfolgte noch eine ärztliche Untersuchung, und da alles erfolgreich verlief, konnte ich am 3. Januar 1961 in Stade meinen Dienst bei der Luftwaffe antreten.
Blick zurück im Zorn? – Ja und Nein. Was mir am meisten zu schaffen gemacht hatte, das waren die Arbeitsbedingungen. Die vielen Überstunden, zu wenig Schlaf, die zum Teil recht stupiden Tätigkeiten einerseits und die Mentalität meiner Arbeitskollegen und Vorgesetzten andererseits. Damit konnte ich auf Dauer nicht klarkommen. Aber das soll kein Vorwurf sein. Zu jener Zeit war die Seefahrt nun mal so. Und wenn das System so funktionierte, dann lag es eben an mir, dann hätte ich mich anpassen müssen.
Wie 1957, als ich voller Sehnsucht die vorbeiziehenden Schiffe beobachtete, habe ich später noch oft den Schiffen nachgeschaut. Aber jetzt war nicht mehr das Verlangen da, an Bord zu sein. Ich wusste, was mich dort erwarten würde.
Abgesehen davon, existiert diese Art von Seefahrt schon lange nicht mehr.
Gone are the days