So hatte ich mir das nicht vorgestellt
15. Mai 1959
Nun hatte ich also Urlaub, den ich zum Teil in Detmold und zum Teil in Essen bei Kurt Groth verbrachte. Dort erhielt ich am 26. Mai auch einen Brief von der URAG Reederei Bremen. Ich sollte mich am 28. in Rotterdam beim Schiffsmakler der Reederei melden. Bei ihm würde ich weitere Informationen über mein Schiff erhalten. Am 27. fuhr ich zurück nach Detmold und kaufte mir noch einen neuen Fotoapparat.
28. Mai
Gegen Mittag kam ich in Rotterdam an. Vom Bahnhof fuhr ich mit dem Taxi direkt zum Makler, der mir den Namen meines neuen Schiffes nannte und mir beschrieb, wo ich es finden würde. Im Vergleich zu Bremen war der Hafen von Rotterdam ein riesiger Irrgarten. Das Schiff hieß „Griesheim“ und lag irgendwo weit außerhalb der Stadt in einem schmutzigen Erzhafen. Die Fahrt mit dem Taxi dauerte eine Stunde. Beim Anblick der „Griesheim“ wollte ich es einfach nicht glauben.
Da lag ein kleiner, alter, gammeliger Kahn mit flachen Aufbauten vor mir. Das war ja schon schlimm genug, als ich aber dann an Bord erfuhr, dass dieser Erzfrachter nur zwei Häfen anlaufen würde, nämlich Rotterdam und Huelva an der Südwestküste Spaniens, da hätte ich heulen können. Der Fahrplan war recht einfach: fünf bis sechs Tage Hinfahrt, zwei Tage Schwefelkies laden und fünf bis sechs Tage Rückfahrt. Abends mussten wir noch verholen (den Liegeplatz wechseln). Was die Sicherheit des Schiffes betraf, hatte ich auch kein gutes Gefühl. Das einzig Positive war, die Besatzung schien in Ordnung zu sein.
1959 hatte die „Griesheim“ bereits 31 Jahre auf dem Buckel.
Die erste Reise
29. Mai
Gleich morgens fing die Schufterei an. Zuerst ging es ins Dock. Von da an hatten wir kein fließend Wasser mehr. Dann kam der Proviant für die nächste Fahrt, das bedeutete Kisten, Kartons und Säcke schleppen. Außerdem wurde auch schon seeklar gemacht. Abends war ich so fertig, dass ich mich kaum noch bewegen konnte.
30. Mai
Es wurde weiter seeklar gemacht und dann das Deck gesäubert. Gegen 14 Uhr konnten wir das Dock verlassen, und die Reise begann. Um 17:30 Uhr hatte ich erstmal Feierabend. Endlich konnte ich mich wieder vernünftig waschen und duschen.
31. Mai
Um 4 Uhr wurde ich geweckt und musste zusätzlich auf Wache, da wir uns in dichtem Nebel befanden. Das Steuern war natürlich anders als auf der „Frauenfels“, klappte aber schon ganz gut.
Auf der Brücke sah es etwas altmodischer aus als auf der „Frauenfels“.
Es gab auch noch ein richtiges Steuerrad.
Nach der Umrundung von Cap Sao Vicente sind es noch ca. 200 km bis Huelva.
4. Juni
Die Seereise war ohne nennenswerte Ereignisse verlaufen. Mittags machten wir ladeklar, und gegen 15 Uhr waren wir in Huelva.
Das Lotsenboot kommt.
Huelva
Nach dem Abendbrot ging ich an Land und bekam erste Eindrücke von der Stadt. Es stank zwar überall nach Fisch, möglicherweise kam das von Fischmehlfabriken, aber es war auszuhalten. Ein Glas Vino Tinto kostete 5 Peseten.
5. Juni
Heute mussten wir den Bug mit schwarzer Farbe malen. Da es von oben bis zur Wasserlinie einige Meter sind, schafft man das nicht, indem man sich einfach über die Reling lehnt, auch wenn man sich noch so sehr streckt. Der Seemann macht das von einer Stellage aus. Das ist ein längeres Brett mit einem Querbrett an jedem Ende woran ein Tampen (Seil) befestigt ist. Die beiden Tampen werden oberhalb der Stellage angebracht, aber so, dass man sie fieren (tiefer lassen) kann. In diesem Fall (Bordwand streichen) hängt die Stellage dann außenbords, der Seemann steht oder sitzt darauf und malt.
Er fängt normalerweise oben an. Nachdem er mit der Fläche, die er so erreichen kann, fertig ist, ruft er seinen Kameraden an Deck zu, sie sollen die Stellage ein Stück fieren. Das muss natürlich gleichmäßig und mit Gefühl geschehen. Wenn die Kumpels einen ärgern wollen oder nicht aufpassen und die Tampen ruckartig oder ungleichmäßig fieren, hat man auf der Stellage seine liebe Not, sich zu halten und nicht im Wasser oder was schlimmer wäre, auf der Pier zu landen.
Als wir abends unsere Arbeit beendet hatten, waren wir von oben bis unten mit schwarzer Farbe bekleckert, und die konnte ich trotz intensivster Bemühungen nur teilweise wieder loswerden. Deshalb musste der Landgang an diesem Tag leider ausfallen.
Arbeiten auf der Stellage, hier am Schornstein
7. Juni
Ich konnte heute wieder an Land gehen und machte noch einige Fotos.
In dieser Mini-Arena fanden nur zweimal im Jahr Stierkämpfe statt.
Hier sollte es Höhlenwohnungen geben. Ob sie allerdings bewohnt waren, konnte ich nicht feststellen.
Aus Meerwasser wurde Salz gewonnen.
Es kam auch vor, dass wir auf Reede lagen, wenn im Erzhafen kein Platz frei war. Dann wurden wir von diesen netten Männern an Land und später wieder zum Schiff gerudert. Das war zwar etwas umständlich, aber eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Unser Wassertaxi
Ein Schiff der URAG, die „Eschersheim“, war auf Grund gelaufen und musste entladen werden, um wieder frei zu kommen. Die Ladung übernahmen wir.
Während wir mit unseren seemännischen Arbeiten beschäftigt waren, wurde natürlich das Schiff mit Erz beladen, und das war eine ganz schöne Sauerei, weil es staubte. Der Schwefelkiesstaub war überall und reizte die Augen und die Schleimhäute.
Der Ladevorgang lief folgendermaßen ab: Wir lagen an der Erz-Pier, und das Erz wurde mit großen Loren herantransportiert. Ein Kran hievte dann die Container über eine der Ladeluken, eine Klappe öffnete sich, und der Schwefelkies rauschte in die Luke. Dabei staubte es dann beträchtlich.
An der Erz-Pier
Ein Kran hievt einen Container an Bord.
Der Schwefelkies rauscht in die Luke.
8. Juni
Am Vormittag malten (also strichen) wir das Heck. Nach dem Mittagessen machten wir seeklar und liefen anschließend aus. Abends half ich noch mit, das Deck vom Erz-Staub zu befreien, indem wir es abspülten.
9. Juni
Im Gegensatz zur Hinfahrt ging es bei der Rückreise schon ziemlich bald zur Sache. Wir kamen in einen schweren Sturm mit entsprechendem Seegang. Drei Tage (und Nächte) wurden wir gebeutelt. Obwohl der Seegang stärker war als alles, was ich bisher erlebt hatte, wurde ich nicht mehr seekrank. Leider hatte ich wieder Ärger mit meinem Fotoapparat. Als ich den Film zurückspulen wollte, klemmte er. Ich öffnete den Apparat im Dunkeln, aber ganz so dunkel war es wohl nicht, denn wie sich später herausstellte, war der Film hin.
14. Juni
Im Kanal war es zwar etwas ruhiger, aber in der Nordsee ging die Schaukelei weiter. Gegen 21 Uhr lagen wir wieder im Rotterdamer Erzhafen.
15. Juni
Bis Mittag arbeitete ich. Nachmittags fuhr ich kurz in die Stadt, um ein paar Sachen einzukaufen. Viel Zeit blieb nicht, denn um 19 Uhr musste ich schon wieder an Bord sein. Ich zog mich schnell um und half dann an Deck.
Die zweite Reise
16. Juni
Nach einem kurzen Schlaf ging es um 0:30 Uhr wieder an Deck, und um 4 Uhr legten wir ab. Ich hatte jetzt die 8 – 12 Wache, und deshalb reichte die Zeit bis 8 Uhr gerade mal für ein Nickerchen. Erst nach dem Mittagessen konnte ich bis zum Beginn der Wache um 16 Uhr einige Stunden durchschlafen.
Unsere Liegezeit in Rotterdam hatte ca. 27 Stunden betragen. Wenn man die Vorbereitungszeit zum Löschen der Ladung während des Einlaufens und die Reinigungsarbeiten nach dem Auslaufen mit einbezieht, war das alles eine wahnsinnige Schufterei. Beim Entladen des Erzes verdreckte das Schiff natürlich genauso wie beim Beladen in Huelva, und genauso verdreckt sahen wir aus.
Bin ich auf dem Bild noch zu erkennen? (ganz rechts)
So sauber und aufgeräumt sah es an Deck nur auf See aus.
Endlich keine Hafen-Hektik mehr
Zum ersten Mal stellten sich bei mir Zweifel ein, ob der Beruf des Seemannes auf Dauer für mich der richtige wäre. Mit der Arbeitsbelastung hatte das eigentlich nichts zu tun, denn nach den Stoßzeiten folgten ja immer wieder ruhige Phasen, und Spaß an der Seefahrt hatte ich nach wie vor. Nein, es waren so einige Beobachtungen, die mich nachdenklich werden ließen.
Wenn das Thema Seefahrt angesprochen wurde, dann gab es fast nie positive Äußerungen, das war bei den Matrosen nicht anders als bei den Offizieren. Fast alle hatten nur eins im Sinn, nämlich eine adäquate Arbeit an Land zu finden. Ganz oben auf der Wunschliste der begehrten Jobs rangierte bei den Offizieren der Beruf des Lotsen, aber die Aussichten waren minimal, eben weil es so viele Bewerber gab. Abgesehen davon war mir auch aufgefallen, dass sich einige Besatzungsmitglieder etwas merkwürdig verhielten. Ob da nun ein direkter Zusammenhang mit der langen Berufsausübung bestand – ich konnte es nur vermuten.
17. Juni
Heute gab es eine kurze Unterbrechung. Der wachhabende Offizier hatte in größerer Entfernung einen Gegenstand auf dem Wasser treiben sehen. Wir änderten unseren Kurs, und beim Näherkommen stellte sich heraus, dass es sich um ein Rettungsfloß handelte, das normalerweise nur von Jet-Piloten benutzt wird. Wir fuhren ziemlich dicht an das Floß heran, stoppten die Maschine, und ein Boot wurde zu Wasser gelassen.
Bis auf eine Möwe war das Floß leer.
Es wurde zum Schiff gebracht und an Deck geholt.
Bei der Untersuchung des Floßes konnten wir weder einen Namen noch sonst einen Hinweis auf seine Herkunft feststellen. Suchmeldungen oder Funksprüche über den Absturz eines Jets lagen auch nicht vor, und somit blieb die Herkunft des Floßes ungeklärt.
Mit vereinten Kräften wird das Boot hochgezogen.
Im weiteren Verlauf der Reise hatten wir natürlich wieder Seegang, aber der war harmlos und eignete sich gut für Stehübungen. Immer senkrecht bleiben!
Inzwischen hatte ich mich an Bord ganz gut eingelebt. Nur der Schlaf kam entschieden zu kurz. Auf See sah das normalerweise so aus: Bei der „8 – 12 Wache“ ging ich von 8 Uhr bis 12 Uhr die erste Hälfte der Wache, dann arbeitete ich von 13 Uhr bis 18 Uhr an Deck und ging von 20 Uhr bis 24 Uhr die zweite Hälfte. Somit war ich jeden Tag von 7:30 Uhr bis 0:30 Uhr (17 Stunden) auf den Beinen. Die 4 – 8 Wache war noch ungünstiger, da war ich von 3:30 Uhr bis 21:30 Uhr (18 Stunden) beschäftigt. Sonntags war es nicht ganz so schlimm. Wenn nichts Besonderes anlag, brauchten wir nur die 8 Stunden Wache zu gehen.
Wenn das Wetter es zuließ, gab es an Deck immer etwas zu tun. Hier wird die Ankerwinde eingefettet.
Als ich in Rotterdam zum ersten Mal an Bord ging, war mein Eindruck von der Besatzung ja recht positiv. Mit dieser Einschätzung hatte ich mich auch nicht getäuscht. Ich kam mit allen gut zurecht, und wie man sieht, auch mit dem Bootsmann.
20. Juli
Inzwischen war mir aber klar geworden, dass ich auf der „Griesheim“ nicht mehr länger fahren wollte, zumal es auch so aussah, als würden die Arbeitsbedingungen noch schlechter. Der Trend ging dahin, die Ladezeit in Huelva auf einen Tag und das Entladen in Rotterdam auf 14 Stunden zu reduzieren, also kaum noch eine Möglichkeit, an Land zu kommen. Ich sehnte mich auch wieder nach einem Schiff, das lange unterwegs war und viele Häfen anlaufen würde. Bei der URAG gab es zwar noch andere Schiffe, aber alles Erzfrachter, und so beschloss ich heute, zum Ende der Reise abzumustern.
21. Juli
Wir machten in Huelva an den Bojen fest, weil an der Pier alle Plätze belegt waren. Aus Fässern und Brettern hatten wir ein Floß gebaut, und das benutzten wir diesmal, um die Bordwand vom Wasser aus zu streichen.
Ab und zu waren Arbeiten im Mast und am Ladegeschirr notwendig. Eine solche Gelegenheit benutzte ich dann auch, um ein Foto von oben zu schießen.
Mal eine andere Perspektive
24. Juli
Abreise Huelva. Manchmal wurden auch zwei Passagiere mitgenommen. Das waren keine „richtigen“ Passagiere, sondern es handelte sich um Angestellte oder Geschäftsfreunde der Reederei, meistens ein Ehepaar. Als unerfahrene Landratten hatten sie insbesondere bei stärkerem Seegang einige Probleme, und ich konnte mir häufig das Lachen nicht verkneifen. Am interessantesten findet man es als Passagier ja meistens auf der Brücke. Da bekommt man mit, was anliegt und hat auch einen guten Ausblick.
Man erreichte die Brücke nur über eine Treppe, entweder die Innen- oder eine der beiden Außentreppen. Steigt man nun bei stärkerem Seegang nach oben, und das Schiff sackt nach unten weg, fühlt man sich plötzlich ganz leicht und meint, den Kontakt mit den Stufen zu verlieren. Im nächsten Augenblick hebt sich das Schiff aber schon wieder, und die Stufen kommen einem von unten entgegen, was als eine Art Schweregefühl empfunden wird. Am besten hält man sich natürlich am Geländer fest.
Hat man den Weg über die Außentreppe gewählt, muss man eine Tür öffnen, um in das Ruderhaus zu gelangen. Wenn sich nun das Schiff von einer Seite auf die andere legt, wird selbst das Öffnen der Tür zum Problem. Je nachdem, zu welcher Seite sich das Schiff gerade neigt, muss man entweder an der Tür ziehen oder gegen sie drücken. Da kann unter Umständen ein gewisser Kraftaufwand erforderlich sein, und man muss den richtigen Zeitpunkt abpassen. Wenn die Tür dann auf ist, schießt der Unerfahrene schon mal quer durch das Ruderhaus, weil mühsam bergauf schnell zu flott bergab wird.
Der Seemann weiß, wann der richtige Augenblick gekommen ist, um eine Tür zu öffnen oder zu schließen oder sich von einer Stelle, an der er Halt gefunden hat, an eine andere, sichere Stelle zu begeben. Aber dieses Wissen fehlte unseren Passagieren natürlich. Wenn sie vor der Tür standen und verzweifelt drückten oder zogen, dann war schon klar, was als Nächstes passieren würde.
Die Brücke der „Griesheim“ war relativ klein. Links und rechts vom geschlossenen Teil, dem Ruderhaus, sieht man den offenen Teil der Brücke, die Brückennocken. Hier kam man an, wenn man die Außentreppen benutzte.
30. Juli
Gegen 20 Uhr liefen wir bei strömendem Regen in Rotterdam ein. Damit war meine zweite und letzte Reise auf der „Griesheim“ beendet. Aus irgendeinem Grund war für den Bootsmann auch Schluss. Wir packten noch in der Nacht unsere Sachen und machten uns auf den Weg zum Bahnhof. Da kein Zug mehr nach Bremen fuhr, übernachteten wir im Seemannsheim.
31. Juli
Wir kamen mittags in Bremen an und gingen zur Reederei, um unsere restliche Heuer abzuholen.
Leider kann ich mich nicht mehr daran erinnern, von wem ich erfuhr, weshalb der Bootsmann die „Griesheim“ verlassen hatte. Einiges hat er mir vielleicht sogar selber erzählt. Jedenfalls erinnere ich mich aber noch daran, dass es bei der Reederei eine Art Verhör gab. Ich wurde über den Bootsmann ausgefragt, insbesondere darüber, ob ich irgendwelche krummen Sachen beobachtet hätte oder ob mir etwas in dieser Richtung zu Ohren gekommen sei.
Der Bootsmann war groß und stark, aber etwas simpel gestrickt. Vielleicht war das der Grund dafür, dass er während der ersten Fahrt nach Huelva dem 3. Offizier einen Kinnhaken verpasst hatte. Er wurde zwar angezeigt, bekam aber keine Strafe. Während der letzten Fahrt brach er nachts beim Steward ein, klaute zwei Flaschen Gin und einen Kasten Bier und ließ sich volllaufen. Dabei hatte ihn wohl jemand beobachtet, denn am nächsten Morgen musste er zum Kapitän und wurde ab Rotterdam fristlos entlassen.
Ich fand das sehr schade, denn ich war bestens mit ihm ausgekommen. Er gab mir an Deck immer gute Arbeiten. Sogar während der Fahrt nach Bremen half er mir beim Gepäcktragen und bezahlte die eine oder andere Rechnung für Essen und Getränke. Ich hoffe, es war ihm eine Lehre, und er hat wieder ein Schiff bekommen.
Die „Griesheim“ wurde 1928 gebaut, 1950 von der URAG gekauft und 1966 in Hamburg abgewrackt.