Die erste Reise
1. August
Übernachtet hatte ich im Seemannsheim und wohnte dort auch bis zum 6. August. Vom Seemannsheim war es nicht weit zu den Reedereien, von denen ich in den nächsten Tagen verschiedene aufsuchte. Leider immer erfolglos, eine Stelle als Jungmann sei zurzeit nicht frei, hieß es überall. Eigentlich hatte ich mir bessere Chancen ausgerechnet, denn es war ja Urlaubszeit, aber anscheinend gab es genug Seeleute. Schließlich ging ich zum Heuerstall und ließ mich dort eintragen. Der Heuerstall war ein Arbeitsvermittlungsbüro für Seeleute.
6. August
Donnerstag. Nachmittags erhielt ich einen Anruf von der Reederei Karl Gross. Sie boten mir an, dass ich am kommenden Dienstag als Jungmann auf der „Gertrud“ anfangen könne. Das Fahrgebiet des Schiffes sei der Mittelmeerraum. Obwohl ich mir ja eigentlich Asien oder Amerika gewünscht hatte, sagte ich zu. Eine längere Wartezeit hätte ich mir finanziell auch nicht leisten können. Am nächsten Morgen fuhr ich nach Detmold.
11. August
Dienstag. Gegen 10 Uhr war ich wieder in Bremen und erledigte den Papierkram. Die „Gertrud“ lag in Nordenham, und deshalb musste ich noch mal in den Zug steigen. Das Schiff war nicht sehr groß, aber relativ neu (fünf Jahre alt) und gefiel mir auf den ersten Blick.
13. August
Als wir in Rotterdam festmachten, lag ganz in der Nähe die „Griesheim“. Ich konnte sogar hinüberrufen, und als mich einige meiner ehemaligen Kumpels erkannten, riefen sie zurück, sie würden mich abends besuchen. Das taten sie dann auch, die halbe Besatzung kam. Später ging ich mit ihnen auf die „Griesheim“, und es wurde eine lange Nacht.
14. August
Von Rotterdam aus ging es nach Bremen, dann nach Hamburg und Antwerpen, wieder zurück nach Rotterdam und noch mal nach Antwerpen, mehr oder weniger die übliche Runde.
28. August
Letzter Tag in Antwerpen. Geplant war, dass wir auf dieser Reise folgende Häfen anlaufen sollten: Lissabon, Oran, Algier, Valetta, Piräus, Patras, Volos, Saloniki, Izmir, Istanbul, Konstanza (Rumänien) und Burgas (Bulgarien). Die Route konnte sich bei Bedarf allerdings jeden Tag ändern.
31. August
Leider hatte ich feststellen müssen, dass die Arbeitsbedingungen auf der „Gertrud“ mindestens genauso hart waren wie auf der „Griesheim“. Am meisten aber litt ich unter dem miserablen Arbeitsklima. Man arbeitete nicht miteinander, sondern gegeneinander. Bei jedem Handgriff wurde geschrien. Wenn es zwei Möglichkeiten gab, war grundsätzlich die andere richtig. Ich versuchte, mich nicht mehr darum zu kümmern, aber trotzdem ärgerte ich mich jeden Tag. Wenn wir beim Essen zusammen in der Messe saßen, gaben die Matrosen ihre Sprüche zum Besten und kamen sich dabei besonders witzig vor. Sie schauten mich nach jedem Satz an und erwarteten, dass ich lachte. Ich verzog dann immer mein Gesicht, obwohl es nichts zum Lachen gab.
Ein Privatleben wurde nicht geduldet. Wenn ich mal etwas Zeit zum Lesen hatte, was äußerst selten vorkam, musste ich es heimlich tun, denn die knappe Freizeit war nicht zum Lesen da, sondern zum Schlafen. Es hieß dann, wenn er zu viel Zeit hat, muss er eben mehr arbeiten.
Bisher war ich immer der Meinung gewesen, ein Seemann sei ein freier Mann, der niemanden zu fürchten hätte, aber das war wohl etwas sehr naiv. Die unteren Dienstgrade fürchteten den Bootsmann. Der fürchtete die Offiziere und trieb seine Leute an, weil er Angst hatte, mit der Arbeit nicht fertig zu werden. Die Offiziere fürchteten den Kapitän oder krochen ihm in den Hintern, da sie befördert werden wollten. Der Kapitän schließlich zitterte vor dem Reeder. So bekamen alle Druck von oben und gaben ihn nach unten weiter.
1. September
Kurz vor Lissabon kamen wir in dichten Nebel. Plötzlich tauchte vor uns ein großer Tanker auf. Sofort hieß es bei uns „Volle Kraft zurück!“ Gleichzeitig drehte der Tanker ab, und wir rauschten in geringem Abstand aneinander vorbei. Vormittags liefen wir in Lissabon ein. Ich konnte mittags kurz an Land gehen, abends liefen wir schon wieder aus.
4. September
Gegen 7 Uhr in Algier, nach fünf Stunden ging es weiter.
6. September
Mittags Ankunft in Valetta. Es war zwar Sonntag, aber an Land konnte ich nicht, da ich bis spät abends arbeiten musste.
7. September
Beim Auslaufen gab es Schwierigkeiten. Wir konnten unsere beiden Anker nicht aufholen, weil die Ankerkette eines neben uns liegenden dänischen Frachters auf unseren Ketten lag. Erst nach längerem Manövrieren kamen wir frei.
8. September
Heute mussten wir in Luke 2 einen Teil der Ladung vom Unterraum ins Zwischendeck umstauen. Es handelte sich um Korkballen. Als ein Ballen umkippte, konnte ich meine rechte Hand nicht schnell genug wegziehen, und sie geriet zwischen den Ballen und eine Eisenkante. Die Wunde blutete stark und musste sofort verbunden werden.
10. September
Piräus, kein Landgang
12. September
Gegen Mittag Ankunft in Izmir. Beim Festmachen sprang ich über die Reling an Land. Da der Boden sehr uneben war, knickten mir beim Aufsetzen beide Füße um. Das tat so weh, dass ich dachte, sie seien gebrochen. Ich ließ mir aber nichts anmerken und arbeitete weiter. Von 18 bis 24 Uhr musste ich tallieren, d.h. die Ladung, die an Bord kam, zählen und auf Vollständigkeit überprüfen. Dabei brauchte ich wenigstens nicht viel zu laufen und konnte meine schmerzenden Füße entlasten.
13. September
Um 7 Uhr Auslaufen. Meine Füße taten immer noch weh, und so humpelte ich mehr oder weniger über Deck.
14. September
Ankunft in Volos gegen 2 Uhr, Wecken um 4 Uhr, kein Landgang, Auslaufen am Nachmittag
15. September
Um 6 Uhr liefen wir in den Hafen von Saloniki ein. Während der Löscharbeiten waren einige Kisten zu Bruch gegangen, und die Bretter lagen überall an Deck herum. Mittags trat ich mit dem rechten Fuß in einen Nagel, der in einem Brett steckte.
Der Nagel drang durch die Schuhsohle in den Fuß. Ich zog das Teil raus, konnte aber vor Schmerzen nicht mehr auftreten. Auf diese Weise kam ich mal wieder an Land, aber nicht, um die Stadt zu besichtigen, sondern zum Arzt. Der verpasste mir als Erstes eine Tetanus-Spritze und röntgte bei der Gelegenheit auch beide Füße. Gebrochen war zum Glück nichts. Jetzt konnte ich kaum noch laufen, und da auch die Narbe an der Hand immer wieder aufging, fühlte ich mich als Halbinvalide. Trotzdem arbeitete ich weiter.
16. September
Am Vormittag wurden die Korkballen wieder vom Zwischendeck zurück in den Unterraum gestaut. Anschließend arbeitete ich außenbords auf der Stellage und stach Rost. Das machte ich auch am nächsten Tag, bis kurz bevor wir ausliefen.
19. September
Morgens kamen wir in Istanbul an und machten im Goldenen Horn an den Bojen fest. Von hier hatten wir einen herrlichen Blick auf die Stadt. Dabei blieb es für mich aber leider auch. Da die Schmerzen immer stärker geworden waren, trug ich jetzt um beide Füße einen Verband. Landgang war damit nicht möglich, doch ich konnte ja noch im Sitzen arbeiten, und so arbeitete ich wieder außenbords auf der Stellage.
20. September
Morgens Abreise, abends Ankunft Mudanya am Marmarameer. Bevor wir anlegen konnten, mussten wir durch eine hohe Brandung. Ich stand am Ruder und hatte meine liebe Not. Nach einem aufregenden Manöver konnten wir schließlich festmachen.
21. September Nachtwache, tagsüber geschlafen
22. September
Mudanya um 15 Uhr verlassen mit Kurs auf Istanbul. Vor Istanbul wurde kurz geankert, und nachts ging es dann durch den Bosporus ins Schwarze Meer. Die Zeit, während der ich am Ruder stand, war wieder ziemlich aufregend. Erstens war es dunkel, zweitens ankerten überall Schiffe und drittens war Linksverkehr. Das alles bei einer Fahrwasserbreite von stellenweise nur knapp 700 Metern.
24. September
Früh morgens erreichten wir Trabzon. Die Stadt liegt fast am östlichen Rand des Schwarzen Meeres. Von hier aus konnten wir sogar die schneebedeckten Gipfel des Kaukasus erkennen.
25. September
Trabzon war der östlichste Hafen auf unserer Reise. Jetzt ging es wieder nach Westen. Unser nächstes Ziel war Samsun, ebenfalls an der Schwarzmeerküste. Entfernung knapp 300 Kilometer.
Istanbul
29. September
Nach einer weiteren Fahrt durch den Bosporus kamen wir heute wieder in Istanbul an. Jetzt lagen hier etliche Kriegsschiffe, u.a. auch ein großer Flugzeugträger, auf dem ein Höllenlärm veranstaltet wurde. Das Deck stand voller Düsenjäger, und bei einigen wurde offenbar das Triebwerk getestet. Wenn sie den Nachbrenner zuschalteten, gab es einen Knall wie beim Durchbrechen der Schallmauer.
1. Oktober
Ich bekam heute doch tatsächlich mal wieder einen halben Tag frei. Das Laufen klappte auch ganz gut, und so ging ich natürlich voller Erwartung an Land.
Auf diesem Turm befand sich damals eine Art Feuerwache. Als wir nach einem etwas mühsamen Aufstieg oben angekommen waren, wurden wir von zwei Männern begrüßt und zu einem Glas Tee eingeladen. Ihre Aufgabe bestand darin, mit Ferngläsern die riesige Stadtfläche nach Rauchsäulen und Brandherden abzusuchen. Wenn sie etwas entdeckten, teilten sie es telefonisch der Feuerwehr mit, die dann ausrückte, um den Brand zu bekämpfen. Wahrscheinlich betraf das wohl in erster Linie die ärmeren Stadtviertel, in denen es keine Feuermelder oder sonstige Möglichkeiten gab, um die Feuerwehr zu benachrichtigen. Von dem Turm aus hatten wir natürlich einen herrlichen Ausblick auf die gesamte Umgebung.
Die Sultan-Ahmet-Moschee oder Blaue Moschee
4. Oktober
Unsere Ladung bestand u.a. aus Tierhäuten, die wohl direkt vom Schlachthof kamen. Jedenfalls lief aus den Ballen ein blutiger Saft, der erbärmlich stank.
Am späten Abend ging es weiter nach Tekirdag am Marmarameer, etwa 130 km westlich von Istanbul. Dies war unser letzter Hafen in der Türkei. Am 11. Oktober begann die Heimreise.
In der Nordsee erwischte uns nachts ein Sturm mit Windstärke 9. Wenn ein Schiff sich um seine Querachse dreht, sagt der Seemann, es stampft. Vorne und hinten geht es dann im Wechsel hoch und runter. Dreht sich das Schiff um seine Längsachse, also von einer Seite auf die andere, sagt der Seemann, es schlingert. Der unangenehmste Fall ist, wenn beide Bewegungen mehr oder weniger gleichzeitig erfolgen. Dann rollt das Schiff.
Genau diese Bedingungen hatten wir in der Nordsee. Wenn sich das Schiff auf die Seite legte, musste ich mich manchmal mit einem Fuß an der Wand abstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Einmal hatte ich sogar richtig Angst. Ich stand nachts auf der Brücke in der Steuerbordnock. Das Vorschiff schoss steil nach oben, und gleichzeitig legte sich das Schiff auf die Steuerbordseite. Aus meiner Perspektive sah ich nun das halbe Schiff schräg über mir, und seitlich unter mir brodelte und zischte das Wasser. Hinzu kam noch, dass es überall krachte und rumpelte, weil sich Teile der Ladung losgerissen hatten und durch die Gegend flogen. Zwischendurch hatte ich noch mitbekommen, wie der Wachoffizier quer durch das Ruderhaus geschleudert wurde und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.
Zum Ende der Heimreise waren unsere Vorräte so gut wie erschöpft. Es gab noch Proviant für einen Tag und Frischwasser nur noch in kleinen Mengen. Der Treibstoff für die Maschine ging auch zur Neige.
30. Oktober
Der erste Hafen, den wir anliefen, war Wismar. Von dort aus ging es nach Hamburg.
Der Schreck in der Morgenstunde
1. November
Eigentlich war es ein ruhiger Sonntagmorgen, an dem wir gegen 7 Uhr im Hamburger Hafen die Leinen losmachten und auf die Elbe hinausfuhren. Aber in Höhe der Anlegestelle „Teufelsbrück“ tauchte plötzlich eine Nebelwand vor uns auf, und Minuten später waren wir mittendrin in der Suppe. Ich stand am Ruder und konnte kaum noch das Vorschiff erkennen.
Da wir kein Radar hatten, tat der Kapitän genau das, was in einem solchen Fall sinnvoll war, er gab den Befehl, sofort den Anker fallenzulassen. In diesem Augenblick tauchte an unserer Steuerbordseite ein großer Frachter auf und näherte sich unaufhaltsam unserem Bug. Es musste jeden Augenblick krachen, und im Geiste sah ich schon, wie wir dem Frachter mit unserem Bug die Seite aufrissen. Unser Kapitän rief mehrmals: „Wie kann so etwas nur passieren, dieser Idiot!“ Es krachte nicht, aber es knirschte laut, als der Frachter mit seiner Bordwand an unserem Bug entlangschrammte. Jetzt konnten wir auch erkennen, dass es sich um ein türkisches Schiff handelte. Kaum war der Frachter wieder im Nebel verschwunden, hörten wir das Rasseln seiner Ankerkette und das Aufheulen seiner Maschine, was nichts anderes bedeutete als „Volle Kraft zurück!“.
So kam, was kommen musste, das Heck des Frachters tauchte jetzt an unserer Backbordseite auf. Unser Kapitän fing an zu toben, der Lotse schrie Kommandos, aber der nächste Zusammenstoß schien unvermeidbar – diesmal sein Heck in unsere Breitseite.
Jetzt kam aber langsam Fahrt in unser Schiff und wir bewegten uns achteraus. Es reichte ganz knapp. Wir berührten uns zwar wieder, wobei auf dem Frachter der Flaggenstock zu Bruch ging und auf beiden Schiffen Farbe abgeschrammt wurde, aber das war unter diesen Umständen noch zu verschmerzen.
Kaum war der Spuk vorbei, tauchte der Türke jedoch ein drittes Mal auf. Sein Heck näherte sich jetzt direkt unserer Brücke. Wir hatten Rufkontakt, und so schrie unser Lotse zu seinem Kollegen hinüber: „Gib voll voraus, voraus, voraus!“, und unser Kapitän rief türkische Schimpfwörter hinüber. Sie hatten es wohl kapiert, die Maschine heulte wieder auf, das Schiff wurde langsamer und kam zum Stillstand. Wir hätten problemlos rüberspringen können, so gering war der Abstand.
„Das war der Schreck in der Morgenstunde“, sagte unser Kapitän. Wie recht er damit hatte, wir waren alle kreidebleich im Gesicht. Den Türken sahen wir zum Glück nicht wieder. Er lag jetzt wohl in sicherem Abstand vor Anker. Erst gegen 13 Uhr hatte sich der Nebel so weit aufgelöst, dass wir unsere Fahrt fortsetzen konnten.
2. November
Morgens in Bremen angekommen, nach zwei Tagen wieder ausgelaufen