Assab (Äthiopien) und der Schildkrötenpanzer
Es konnte schon mal vorkommen, dass der Fahrplan kurzfristig geändert wurde. So bekamen wir unterwegs die Anweisung, den Hafen Assab in Äthiopien anzulaufen. Assab liegt am Roten Meer, und da wurde es wieder ordentlich warm.
Pongo hatte erfahren, dass man bei einheimischen Fischern für eine Stange Zigaretten einen Schildkrötenpanzer erhandeln konnte. Er wollte unbedingt ein solches Souvenir mit nach Deutschland nehmen. Wir bekamen einen halben Tag frei und machten uns um die Mittagszeit auf den Weg.
Blick zurück auf Assab
So wanderten wir immer am Strand entlang, in der Hoffnung, irgendwann einem Fischer zu begegnen. Nach einer Weile stießen wir auf eine Hütte, aber sie war leer, und von einem Fischer war weit und breit nichts zu sehen. Wir überlegten, ob wir umkehren sollten, aber Pongo wollte noch nicht aufgeben, und ich ließ mich überreden.
Von einem Fischer war nichts zu sehen, aber wir konnten uns wenigstens im Schatten der Palmen etwas ausruhen.
Irgendwann machte die Küste einen Knick landeinwärts, und da sahen wir dann in der Ferne zwei kleine Boote und zwei Gestalten, die sich zwischen den Booten und dem Ufer hin und her bewegten. Das mussten Fischer sein. Obwohl es inzwischen recht heiß geworden war und wir außer der Stange Zigaretten und meinem Fotoapparat weder Getränke noch etwas Essbares oder einen Sonnenschutz bei uns hatten, gingen wir weiter. Allzu lange konnte es ja nicht mehr dauern.
Beim Näherkommen stellte sich auch tatsächlich heraus, dass es sich um Fischer handelte. Die sahen uns zunächst ziemlich argwöhnisch an, aber als Pongo ihnen die Zigaretten zeigte, hellte sich ihre Miene etwas auf. Es gelang uns auch, ihnen klarzumachen, was wir wollten, und Pongo bekam nach einigem Hin und Her einen wunderschönen Schildkrötenpanzer. An meinem Fotoapparat waren sie zwar auch interessiert, aber den wollte ich behalten. Nachdem der Handel beendet war, machte ich ein Foto von Pongo, dem Fischer und dem Schildkrötenpanzer, den der Fischer aber unbedingt selber halten wollte.
Ganz geheuer war mir der Typ nicht.
Nach diesem Foto forderte er mich auf, in sein Kanu zu steigen. Jetzt sollte Pongo ein Foto machen. Der Fischer stieg zuerst ins Boot, bückte sich und hielt plötzlich einen speerartigen Knüppel in der Hand. Ich hatte ein ungutes Gefühl, aber er schrie und gestikulierte mit dem Speer, und weil ich ihn nicht verärgern wollte, setzte ich mich zaghaft auf den vorderen Rand des Kanus. Nun sollte ich mich umdrehen und zu Pongo in die Kamera schauen. Auf keinen Fall wollte ich dem Mann aber den Rücken zukehren. So blieb ich denn seitlich auf dem Boot sitzen, so dass ich ihn im Auge behalten konnte, bereit, jeden Moment aufzuspringen und die Flucht zu ergreifen, da der Fischer mit seinem Speer direkt auf mich zielte.
War das noch Spaß oder steckte mehr dahinter? Erst überwältigt er dich, dann fallen sie gemeinsam über Pongo her, und anschließend verscharren sie uns in der Wüste oder versenken uns im Roten Meer, diese Gedanken gingen mir durch den Kopf. Wir hatten wirklich schlechte Karten.
Pongo machte das Foto, und ich ging erleichtert wieder zu ihm. Damit war die Angelegenheit für den Fischer offensichtlich erledigt. Er kümmerte sich nicht weiter um uns und ging mit seinem Kumpel wieder seiner Arbeit nach.
Inzwischen war es Nachmittag geworden, und wir mussten uns Gedanken über den Heimweg machen. Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder denselben Weg zurück oder der Bucht noch ein Stück folgen, dann landeinwärts und auf direktem Weg Richtung Assab. Wir entschieden uns für die zweite Möglichkeit, da uns der Weg kürzer erschien. Wir folgten dem Strand noch ein gutes Stück, verließen dann das Meer und wandten uns landeinwärts.
Die Landschaft sah trostlos aus. Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm, nur Sand und Geröll, soweit wir blicken konnten. Die Steine hatten wenigstens den Vorteil, dass wir beim Gehen nicht allzu tief im Sand einsanken und einigermaßen vorwärts kamen. Dennoch hatten wir nach einigen Stunden das Gefühl, uns immer noch in derselben Gegend zu befinden. Erschöpft und durstig machten wir erstmal Rast. Hatten wir uns in der Richtung geirrt, waren wir vielleicht im Kreis gelaufen?
Letzteres konnte eigentlich nicht der Fall sein, denn wir hatten uns die ganze Zeit an der Sonne orientiert, und die war immer links von uns geblieben. Da saßen wir nun ziemlich ratlos inmitten einer Steinwüste. Dass Seeleute in Ausübung ihres Berufes ertrunken waren, das leuchtete uns noch ein, aber dass wir in der Wüste vertrocknen sollten, erschien uns einfach absurd. Also weiter.
Als wir uns gerade wieder erhoben hatten und eine neue Richtung einschlagen wollten, bemerkten wir zufällig in ziemlich großer Entfernung einen dunklen Flecken, der sich langsam näherte. Bald konnten wir auch erkennen, dass es sich um eine kleine Karawane handelte, die unseren Weg im Abstand von einigen hundert Metern kreuzen würde. Die Karawane bestand aus zwei Eseln, drei Dromedaren und zwei verhüllten Gestalten. Wir beschlossen, vorsichtig zu sein und der Gruppe erstmal in sicherem Abstand zu folgen. Vielleicht war sie ja in Richtung Assab unterwegs. Wir ließen sie also vorbei, warteten noch ein paar Minuten und setzten uns dann wieder in Marsch. Schon bald waren wir guten Mutes, denn die Karawane zog auf einem Weg, dem wir nun auch folgen konnten.
Am späten Nachmittag tauchten in der Ferne einige Häuser auf. Wir dachten zuerst, es sei Assab, aber es waren nur ein paar armselige Hütten aus Steinen und Wellblech, die an einer Wegkreuzung standen. Als wir die ersten Hütten erreicht hatten, überholten wir die Karawane noch schnell, weil ich sie von vorn fotografieren wollte. Dabei stellten wir fest, dass die beiden Gestalten Frauen waren. Sie nahmen aber keinerlei Notiz von uns.
Zwischen den Hütten standen oder hockten schwarzhäutige Männer, Frauen und Kinder, die uns anstarrten, als kämen wir direkt vom Mars. Wir waren für sie auch wohl ein seltener Anblick. Vielleicht hatten sie ja noch nie zwei bleichgesichtige, fremdartig gekleidete Europäer gesehen, die zu Fuß aus der Wüste kamen und außer einem Schildkrötenpanzer nichts bei sich hatten.
Wir steuerten eine Gruppe von Männern an und fragten „Assab? Assab?“, was sie wohl auch verstanden. Jedenfalls zeigten sie auf einen Weg, der aus dem „Dorf“ hinausführte, und wir zogen weiter. Was blieb uns auch anderes übrig, als dem Weg zu folgen. Mittlerweile war es dunkel geworden. Nach einem weiteren Fußmarsch, der kein Ende nehmen wollte, tauchten in der Ferne einige Lichter auf, und gegen 22 Uhr waren wir dann endlich wieder auf unserem Schiff.
Schon während der letzten Stunden hatte ich Kopfschmerzen bekommen, die immer heftiger wurden. Jetzt, da wir auf dem Schiff waren, wurde mir abwechselnd heiß und kalt. Hinzu kamen Schwindel, Übelkeit und Flimmern vor den Augen. Als ich mehr und mehr abbaute, holte Pongo den Dritten Offizier, der für die ärztliche Betreuung an Bord zuständig war. Der konstatierte „Sonnenstich“, gab mir ein paar Tabletten und einige Ratschläge. Auch eine Bemerkung über unsere Dummheit, ohne Kopfbedeckung einen solchen Ausflug zu machen, konnte er sich nicht verkneifen.
Die Nacht war schlimm, aber Pongo hatte wenigstens seinen Schildkrötenpanzer. Den konnte er aber nicht mit in die Kabine nehmen, weil die Innenseite noch Fleischreste enthielt, die sich nicht entfernen ließen und das Ganze furchtbar stank. So rieb er den Schildkrötenpanzer von innen mit Salz ein, verstaute ihn auf dem Achterdeck und ließ ihn dort zum Gespött einiger Kameraden bis zu unserer Ankunft in Deutschland liegen.
Nachdem wir den Suez-Kanal passiert hatten und uns wieder im Mittelmeer befanden, erlebte ich mein erstes Weihnachtsfest auf See. Am Heiligen Abend wurde zwar gefeiert, aber ich musste schon nach einer halben Stunde auf die Brücke, da ich von 20 Uhr bis 24 Uhr Wache hatte.
Von Weihnachtsstimmung bekam ich deshalb nicht viel mit. Dafür ließ eine starke Dünung von vorn unser Schiff im Laufe der Nacht immer heftiger stampfen, so dass mir wieder flau im Magen wurde.
Am 1. Weihnachtstag waren wir in der Höhe von Malta, und da fiel – sozusagen als verspätete Bescherung – eine Brennstoffpumpe aus. Zum Glück konnte der Schaden nach kurzer Zeit – in der wir in der recht hohen Dünung manövrierunfähig trieben – ohne fremde Hilfe behoben werden. Abgesehen von der anfänglichen Übelkeit wurde ich auch in den nächsten Tagen nicht seekrank, was ich mit Genugtuung zur Kenntnis nahm.
Ende der Reise
Während des letzten Teils der Reise gab es dann noch eine Überraschung, mit der wohl keiner gerechnet hatte. Unser Proviant ging zur Neige. Die Mahlzeiten wurden immer eintöniger, Gemüse und Obst fehlten zum Schluss ganz. Als wir in Rotterdam ankamen, waren die Vorratsräume so gut wie leer. Ob es sich um Zufall handelte oder der Vitaminmangel daran schuld war, ist schwer zu sagen. Jedenfalls war plötzlich von Beschwerden wie starkem Haarausfall, Zahnfleischentzündungen und seltsamen dunklen Flecken unter der Haut die Rede. Wir dachten schon an die alten Zeiten, als Skorbut noch zu den unangenehmen Begleiterscheinungen der Seefahrt gehörte. Nachdem wir in Rotterdam jedoch wieder ordentlich zugelangt hatten, war das kein Thema mehr.
Von Hamburg aus fuhren die meisten Kameraden in Urlaub. Auch ich hätte eigentlich die Möglichkeit dazu gehabt, aber da ich mich an Bord recht wohl fühlte, beschloss ich noch bis Bremen zu warten. Beim Ablegen am Nachmittag waren wir vorn und achtern nur noch zu dritt. Das bedeutete für jeden Einzelnen verstärktes Zupacken, denn sonst hatten sich etwa zehn Leute die Arbeit geteilt.
Während wir die Elbe abwärts fuhren, musste ich auf der Back (ganz vorn auf dem Schiff) Ausguck gehen. Es war bitterkalt, und durch den eisigen Wind, der mir ins Gesicht blies, platzten meine Lippen auf und fingen an zu bluten. Außerdem fror ich wie ein Schneider, da ich mich bei der Auswahl meiner Arbeitskleidung zu Beginn der Reise nur auf den Persischen Golf eingestellt hatte. So war ich heilfroh, als ich abgelöst wurde und mich unter Deck wieder aufwärmen konnte. In der Nacht bekamen wir wenig Schlaf, so dass wir am nächsten Morgen, als wir in Bremen festmachten, ziemlich mitgenommen aussahen. Dennoch packte ich noch am selben Tag – es war Samstag, der 10. Januar, 1959 – meinen Seesack, um nach rund acht Monaten Abwesenheit zu Hause ein paar Tage Urlaub zu machen.
Die „Frauenfels“ auf der Elbe – Ausguck auf der Back
Es gab allerdings noch ein Problem. Bei unserem letzten Aufenthalt in Khorramshar hatte ich von einem Händler für eine Stange Zigaretten einen Vogel und für fünf Flaschen Bier einen kunstvoll aus Bambusstäbchen angefertigten Käfig erworben. Äußerlich sah der Vogel recht unscheinbar aus, aber er konnte wunderbar singen. Deshalb stuften wir ihn unter der Gattung „Persische Nachtigall“ ein. Ansonsten bekam er den Namen „Hansi“.
Ich wollte Hansi mit nach Hause nehmen, aber ich hatte erfahren, dass ich mit dem Vogel beim Verlassen des Freihafens Schwierigkeiten bekommen würde. Also besorgte ich mir einen kleinen Pappkarton und schnitt einige Luftlöcher hinein. Da Hansi mit der Zeit recht zutraulich geworden war, bereitete seine Umquartierung auch keine Probleme. Beim Packen des Seesacks ließ ich oben ein Stück frei, so dass der Karton gerade noch hineinpasste. Dann schulterte ich den Seesack und verließ das Schiff. Den Käfig ließ ich vorsichtshalber an Bord zurück, um damit beim Zoll nicht aufzufallen.
Kurz vor dem Verlassen des Freihafengeländes nahm ich Hansi aus dem Karton und steckte ihn in meine rechte Manteltasche. Die Hand hielt ich natürlich schützend um ihn, damit er keinen Schaden nahm. So erreichten wir nach kurzer Zeit das Tor, und ich hatte Glück. Der Zollbeamte ließ mich passieren, ohne dass ich meinen Seesack öffnen musste, und Hansi hatte Glück, weil er den Schnabel hielt. Als wir außer Sichtweite waren, kam er wieder in den Pappkarton, und es ging weiter, zum Bahnhof.
Einen Seesack zu transportieren kann mit der Zeit recht mühsam werden. Die Abstände, in denen ich ihn von der einen Schulter auf die andere wuchten musste, wurden jedenfalls immer kürzer. So war ich denn auch im wahrsten Sinne des Wortes erleichtert, als ich mich endlich im Zug befand und meine Last auf die Gepäckablage gehievt hatte. Außer mir saßen im Zugabteil noch ein älterer Herr und zwei Damen. Da kein Gespräch aufkam und die Fahrgeräusche des Zuges recht monoton waren, fielen mir schon bald die Augen zu.
Bevor ich jedoch richtig eingeschlafen war, ertönte über unseren Köpfen ein zaghaftes Zwitschern. Dann war es wieder still. Die anderen Fahrgäste hatten zwar kurz aufgeblickt, aber dass ein Vogel im Abteil war, kam ihnen wohl nicht in den Sinn. Erst als Hansi richtig in Schwung kam und eine Arie nach der anderen schmetterte, sah ich mich gezwungen, eine Erklärung abzugeben. So kamen wir doch noch ins Gespräch, allerdings auf Kosten meines Nickerchens.
Hansi kam unbeschadet in Detmold an. Seinen Bambuskäfig habe ich später mit der Post geschickt. Er lebte darin noch viele Jahre und erfreute meine Mutter sowie die Nachbarschaft mit seinem herrlichen Gesang.