Wieso bist du eigentlich auf die Idee gekommen, zur See zu fahren? Wenn ich über diese Frage nachdenke, so fällt es mir nicht leicht, eine Antwort zu finden. Aber ich glaube, es fing alles mit Kurt Groth an. Das war ein junger Schauspieler, der in meiner Heimatstadt Detmold ein Zimmer suchte, weil er am Lippischen Landestheater ein Engagement bekommen hatte. Und da wir zu dieser Zeit ein Zimmer vermieten wollten – das Geld war knapp – ergab es sich, dass Kurt bei uns einzog.
Er kam aus Hamburg, und der Name Hamburg ist ja bekanntlich eng mit der Seefahrt verbunden. Jetzt waren die Weichen gestellt. Damals war ich so um die acht Jahre alt. Wissbegierig, wie Kinder in dem Alter nun mal sind, stellte ich viele Fragen, die aber bald nur noch um ein Thema kreisten. Ich wollte alles wissen, was mit der Seefahrt zu tun hatte, und ich war fasziniert von den Antworten, die ich erhielt.
Hinter unserem Haus floss zwar die Werre, und in der Nähe gab es den Donoper Teich, aber was war das schon im Vergleich mit der Elbe und der Nordsee? Schon bald lebte ich in einer Art Phantasiewelt. Ich sah Schiffe und Häfen vor mir, überquerte endlose Meere, und wenn es stürmte, malte ich mir aus, wie es auf See sein würde. Das Fernweh packte mich. Nachts hatte ich immer wieder denselben Traum: Ich wollte die Nordsee sehen, aber wo war sie? Irgendwo hinter dem Teutoburger Wald musste sie sein, da war ich sicher.
So machte ich mich auf den Weg in Richtung Hermannsdenkmal. Nur die Bergkette des Teutoburger Waldes musst du überwinden, so dachte ich mir, dann wirst du das Meer sehen. Und wenn ich dann dort oben angelangt war, sah ich es tatsächlich. Aber es war eben nur ein Traum.
Mit zunehmendem Alter kam ich allerdings dahinter, dass es die falsche Richtung war. Ich fand heraus, dass ich nach Norden musste, nach Bremen und von da aus über Bremerhaven nach Cuxhaven. Dort würde ich endlich das sehen, wovon ich die ganze Zeit geträumt hatte. Die rund 250 km mit der Bahn zu fahren wäre zwar vernünftig gewesen, aber das Geld hätte ich nie aufbringen können. Die einzige Möglichkeit war, per Anhalter zu fahren.
In den Osterferien 1957 – ich war jetzt 16 Jahre alt – packte ich einige Sachen zusammen und begab mich mit einem Klassenkameraden auf die Reise. Wir schafften es tatsächlich und waren schon nach relativ kurzer Zeit in Cuxhaven. Aber nicht die Stadt, sondern die Nordsee war ja das eigentliche Ziel. Nach einem letzten Fußmarsch war es dann endlich soweit. Wir überquerten noch einige Dünen, und die Nordsee lag vor uns. Es war ein warmer, sonniger Tag und nahezu windstill. Die See war glatt, der Blick frei bis zum Horizont. Ich setzte mich an den Strand und war überwältigt von dem Anblick der Schiffe, die langsam und majestätisch aus der Elbe in die Nordsee fuhren und dann irgendwo im Dunst des Horizontes verschwanden.
Andere Schiffe tauchten am Horizont auf, wurden größer und größer und liefen dann nicht weit von uns in die Elbmündung ein.
Ich hätte mein letztes Hemd dafür gegeben, um an Bord eines dieser Schiffe zu sein. Da lag nun alles vor mir, zum Greifen nahe, aber leider unerreichbar. Das trieb mir die Tränen in die Augen.
Als wir endlich aufbrachen, stand mein Entschluss fest. Nichts wird dich davon abhalten, zur See zu fahren, du wirst Seemann! Jetzt wollte ich die Schiffe natürlich aus der Nähe sehen. Ich überredete meinen Klassenkameraden nochmal zum Mitfahren, und schon bald ging es erneut auf Tour. Als Erstes besuchten wir den Bremer Überseehafen.
Wir kamen zwar ziemlich nahe an die Schiffe heran, aber leider nicht an Bord.
Die „NEUENFELS“ war ein Schwergutfrachter der Bremer HANSA Reederei. Bei dieser Reederei bekam ich dann ein Jahr später mein erstes Schiff, die „FRAUENFELS“.
Von Bremen aus fuhren wir weiter nach Hamburg.
Blick von der U-Bahn Haltestelle „LANDUNGSBRÜCKEN“
Meine erste Hafenrundfahrt
Schließlich schafften wir es dann doch noch, auf ein Schiff zu kommen.
Von nun an interessierte mich an Land eigentlich nichts mehr. Einen Seesack packen, nach Hamburg oder Bremen fahren, ein Schiff aussuchen und anheuern, so stellte ich mir das zunächst vor, aber so einfach war es nicht.
31. Dezember 1957
In den Weihnachtsferien wollte ich erst mal nach Bremen trampen, um mir das „Schulschiff Deutschland“ anzusehen. Ich hatte inzwischen erfahren, dass dort Lehrgänge für den seemännischen Nachwuchs stattfanden. Also konnte es nicht schaden, sich mal an Ort und Stelle zu erkundigen. Obwohl ich ausgerechnet Silvester als Reisetag gewählt hatte, ließ sich mein Freund Heinz zum Mitfahren überreden, und gemeinsam sahen wir dann am späten Nachmittag den stolzen Dreimaster auf seinem Liegeplatz an der Kleinen Weser.
Nachdem wir das Schiff aus gebührendem Abstand bewundert hatten, fiel mein Blick auf ein Schild an der Gangway: „Zutritt verboten!“ Trotzdem wagten wir einen Versuch. Am Ende der Gangway wurden wir von einem jungen Mann in Empfang genommen, der – wie sich in dem folgenden Gespräch herausstellte – über die Feiertage Wache schieben musste. Bis auf zwei Lehrgangsteilnehmer hatten alle Urlaub, und somit war der Zeitpunkt recht günstig. Wir verstanden uns prächtig und bekamen eine exzellente Führung.
Da sitze ich (links) mit einem der netten Jungs auf dem Klüverbaum.
Und knappe 50 Jahre später steht hier meine Tochter Sarah.
Imponierend, der Blick in den Mast
Mein Freund Heinz (links im Bild), steht noch ganz unter dem Eindruck der Erzählungen der beiden „Seebären“.
Wir feierten Silvester gemeinsam, und ich fühlte mich schon wie zu Hause. Um Mitternacht wurden von den Schiffen Leuchtraketen abgefeuert, begleitet vom tiefen Dröhnen der Nebelhörner. Das war sehr beeindruckend.
Der Schneematsch und das trübe Wetter störten uns nicht weiter.
Nach der Restaurierung und im Frühjahr 1998 sah es dann so aus.
Den Rest der Nacht verbrachten mein Freund und ich in der Jugendherberge, aber am nächsten Morgen waren wir schon wieder an Bord. Ich durfte sogar in der Jolle mitfahren.
„Wriggen“ sollte einige Monate später meine Lieblingsbeschäftigung während der Freizeit werden.
Ein bisschen „Wanten-feeling“ gab es auch schon.
Damals stand auf dem Rettungsring
SCHULSCHIFF DEUTSCHLAND OLDENBURG.
Nach der Restaurierung 1995/96 hat sich das ein wenig geändert. Aber die Aufhängung scheint noch das Original zu sein. Inzwischen hat die „Deutschland“ auch einen neuen Liegeplatz. Ich habe sie dort zweimal besucht, aber das sind zwei andere Geschichten.
5. Februar 1958
Voraussetzung für den Seemannsberuf war zunächst einmal, dass man gesundheitlich fit war, und deshalb war eine Untersuchung bei einem Vertrauensarzt der Seeberufsgenossenschaft vorgeschrieben. Der für mich nächstgelegene Ort, an dem diese Untersuchung durchgeführt werden konnte, war Minden.
Ich meldete mich dort an und bekam einen Termin für den 5. Februar. Nach der Untersuchung erhielt ich einen Umschlag mit einer Gesundheitskarte.
Die Untersuchung war erfolgreich, und somit war die erste Hürde genommen. Jetzt fehlte nur noch ein Schiff, also Bewerbungen an Reedereien schreiben. Aber welche Enttäuschung, ich erhielt nur Absagen. Ich sah mein eigentliches Ziel, die Überseeschifffahrt, schon schwinden und bewarb mich bei der Küstenschifffahrt. Dort sah es etwas besser aus, eventuell wäre eine Einstellung möglich gewesen. Dann las ich in einer Zeitschrift einen Artikel über die Hochseefischerei. Um mehr darüber zu erfahren, ging ich zum Arbeitsamt.
Von der Hochseefischerei riet man mir zum Glück ab, aber ich erhielt einen wertvollen Tipp: Voraussetzung für den Beruf des Seemannes sei ein dreimonatiger Lehrgang an einer Seemannsschule. Eine dieser Schulen sei in Bremen und zwar das „Schulschiff Deutschland“. Wer hätte das gedacht?!
Ich schrieb also meine Bewerbung (inzwischen war es Mitte April) an den deutschen Schulschiff-Verein in Bremen und erhielt – wieder eine Absage, die Lehrgänge seien bis zu einem Jahr im Voraus belegt. Jetzt gab es nur noch eins, wieder nach Bremen trampen und die Lage vor Ort erkunden.
Am 15. April betrat ich gegen Mittag die vornehme Villa des Schulschiff-Vereins in der Parkallee. Da ich nicht wusste, an wen ich mich wenden sollte, sprach ich einen älteren Herrn an, der mir in einem der Flure begegnete. Er nahm mich mit in sein Büro und stellte sich als Kapitän vor. Dann fragte er, was er für mich tun könne. Ich erzählte ihm, dass ich aus Detmold käme, nach Bremen getrampt sei und mein größter Wunsch wäre es, so schnell wie möglich zur See zu fahren. Leider könne ich aber nach Beendigung meiner Schulzeit Mitte Mai keinen Ausbildungsplatz auf dem „Schulschiff Deutschland“ bekommen, da alle Plätze belegt seien.
Der Kapitän sah mich eine Weile stillschweigend an, dann stand er auf, rief einen Kollegen hinzu und beide berieten sich kurz. Schließlich sagte er: „Wer das alles auf sich nimmt, dem ist es wirklich ernst. Wir werden einen Weg finden. Du wirst von uns hören.“
Zehn Tage später geschah dann das Unerwartete. Ich bekam einen Brief mit der Zusage, mein Lehrgang beginne am 12. Mai. Vor Freude drehte ich beinahe durch. Nun waren die Tage an Land gezählt, aber sie vergingen wie im Flug. Am 12. Mai, kurz nach meinem 17. Geburtstag, fuhr ich dann wieder nach Bremen. Diesmal mit dem Zug und gepacktem Seesack.